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Abendruh: Thriller (German Edition)

Abendruh: Thriller (German Edition)

Titel: Abendruh: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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warum sie das Fach gewählt hat.«
    Während Dr. Owen das Laken zurückschlug, leuchteten die beiden Polizisten die Leiche mit ihren Taschenlampen an. Anna Welliver lag auf dem Rücken, das Gesicht den grellen Lichtstrahlen ausgesetzt, umrahmt von wirren grauen Haaren. Maura blickte zu den Fenstern der Schlafräume im zweiten Stock auf und sah die Silhouetten der Schüler, die gebannt auf eine Szene herabstarrten, wie sie Kinder nie zu Gesicht bekommen sollten.
    »Dr. Isles?« Dr. Owen hielt Maura ein Paar Handschuhe hin. »Falls Sie mir Gesellschaft leisten möchten.«
    Es war eine Einladung, die Maura nicht sonderlich willkommen war, doch sie zog die Handschuhe an und kniete sich neben ihre jüngere Kollegin. Gemeinsam betasteten sie den Schädel, untersuchten die Gliedmaßen, registrierten die offensichtlichen Frakturen.
    »Das Einzige, was mich interessiert, ist: Unfall oder Selbstmord?«, sagte einer der Detectives.
    »Ein Tötungsdelikt haben Sie schon ausgeschlossen?«, fragte Dr. Owen.
    Er nickte. »Wir haben mit der Zeugin gesprochen. Ein Mädchen namens Claire Ward, dreizehn Jahre alt. Sie war draußen, hat genau hier gestanden, als es passierte, und sie hat niemanden außer dem Opfer auf dem Dach gesehen. Sie sagt, die Frau habe die Arme ausgebreitet und sei gesprungen.« Er deutete zu dem hell erleuchteten Turmzimmer. »Die Tür, die von ihrem Büro nach draußen führt, stand weit offen, und wir haben keine Anzeichen für einen Kampf gesehen. Sie ist auf den Zinnengang getreten, über das Geländer geklettert und runtergesprungen.«
    »Warum?«
    Der Detective zuckte mit den Achseln. »Das überlasse ich den Seelenklempnern. Denen, die nicht gesprungen sind.«
    Dr. Owen richtete sich behände auf, doch Maura spürte ihr Alter, als sie sich wesentlich langsamer als ihre Kollegin in die Vertikale begab. Ihr rechtes Knie war steif von zu vielen Sommern mit Gartenarbeit, von der unvermeidlichen Abnutzung, der Sehnen und Knorpel nach vier Jahrzehnten unterworfen waren. Das Ziehen im Gelenk erinnerte sie wieder einmal daran, dass eine neue Generation schon in den Startlöchern saß.
    »Also, nach dem, was Sie von der Zeugin erfahren haben«, sagte Dr. Owen, »können wir wohl kaum von einem Unfalltod ausgehen.«
    »Es sei denn, Sie nennen es einen Unfall , dass sie über das Geländer geklettert ist und sich vom Dach gestürzt hat.«
    »Okay.« Dr. Owen streifte ihre Handschuhe ab. »Ich muss Ihnen beipflichten. Die Todesart ist Selbstmord.«
    »Nur, dass wir es alle nicht haben kommen sehen«, bemerkte Maura. »Es gab absolut keine Warnzeichen.«
    Im Dunkeln konnte sie die Mienen der beiden Polizisten nicht sehen, doch sie konnte sich gut vorstellen, wie sie die Augen verdrehten.
    »Sie hätten gerne einen Abschiedsbrief?«, sagte der eine.
    »Ich hätte gerne einen Grund. Ich habe die Frau gekannt.«
    »Ehefrauen glauben, dass sie ihre Männer kennen. Und Eltern kennen ihre Kinder.«
    »Ja, das bekomme ich nach jedem Selbstmord zu hören. Es hat doch nichts darauf hingedeutet. Mir ist durchaus bewusst, dass Angehörige manchmal ahnungslos sind. Aber das hier …« Maura hielt inne. Sie spürte die drei Augenpaare, die sie beobachteten – sie, die angesehene Rechtsmedizinerin aus Boston, die hier etwas so Unlogisches wie ein Bauchgefühl zu verteidigen suchte. »Sie müssen verstehen, es war Dr. Wellivers Beruf, verstörte Kinder zu therapieren. Ihnen nach einem schweren psychischen Trauma zur Seite zu stehen. Es war ihr Lebenswerk – warum sollte sie ihre Schützlinge also noch mehr traumatisieren, indem sie ihnen diesen Anblick zumutete? Indem sie auf so spektakuläre Art und Weise Selbstmord beging?«
    »Haben Sie eine Antwort darauf?«
    »Nein. Und ihre Kollegen auch nicht. Niemand von den Lehrern und Angestellten versteht es.«
    »Gibt es Angehörige?«, fragte Dr. Owen. »Irgendjemanden, der uns da weiterhelfen könnte?«
    »Sie war Witwe. Direktor Baum sagt, er wisse nichts von irgendwelchen lebenden Verwandten.«
    »Dann ist es wohl leider eine dieser Gleichungen mit zu vielen Unbekannten«, sagte Dr. Owen. »Aber ich werde sie obduzieren, auch wenn die Todesursache offensichtlich scheint.«
    Maura sah auf die Leiche und dachte: Die Todesursache zu bestimmen wird der leichtere Teil der Übung sein. Man musste nur die Haut aufschneiden, die gerissenen Organe und zerschmetterten Knochen untersuchen, und man würde die Antworten finden. Es waren die Fragen, die sie nicht beantworten konnte, die Maura am

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