Abendstern - Roman
würden.
Drinnen roch es nach Bibliothek. Nach Büchern und Staub, nach Stille.
Sie ging zum Informationsschalter. Computer, lange Tische, Bücherwagen, ein paar Leute, die zwischen den Regalen entlanggingen, zwei alte Männer, die Zeitung lasen. Sie hörte das Summen eines Kopierers und das leise Klingeln des Telefons an der Information.
Im Flüsterton wandte sie sich an den Mann hinter der Theke. »Guten Morgen. Ich suche Bücher über lokale Geschichte.«
»Das ist im ersten Stock, im Westflügel. Die Treppe ist links, der Aufzug befindet sich dort hinten. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Danke, ich möchte nur ein bisschen stöbern. Ist Mrs Abbott heute da?«
»Mrs Abbott ist im Ruhestand, aber sie ist fast jeden Tag ab elf Uhr da.«
»Vielen Dank.«
Quinn nahm die Treppe. Sie war hübsch geschwungen, stellte sie fest. Ein bisschen wie die Freitreppe in Vom Winde verweht.
Lokale Themen war eher ein Raum - eine Minibibliothek - als eine Abteilung. Hübsche, gemütliche Stühle, Tische, gedämpftes Licht und Fußbänkchen. Er war größer, als sie erwartet hatte, was natürlich auch an den zahlreichen Titeln über Hollow im Bürgerkrieg lag.
Es gab auch eine Menge Bücher von Autoren aus der Gegend. Sie suchte sich ein paar heraus und stellte fest, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Mehr als ein Dutzend Titel waren ihr bei ihren Recherchen noch nicht begegnet.
Erwartungsvoll stellte sie ihren Laptop auf, holte ihren Notizblock und ihr Aufnahmegerät heraus und nahm sich fünf Bücher vor. Erst da bemerkte sie die diskrete Bronzeplakette.
Die Bibliothek von Hawkins Hollow
bedankt sich für die Großzügigkeit
der Familie von Franklin und Maybelle Hawkins
Franklin und Maybelle. Das waren wahrscheinlich Cals Vorfahren. Es war passend und großzügig zugleich, dass sie diesen Raum finanziert hatten. Gerade diesen Raum.
Sie setzte sich an den Tisch, nahm eins der Bücher und begann zu lesen.
Sie hatte sich schon zahlreiche Notizen gemacht, als sie auf einmal Babypuder und Lavendel roch.
Als sie aufblickte, sah sie eine schlanke alte Frau in einem violetten Kostüm vor sich stehen. Sie trug schwarze, feste Schuhe, und auf ihrer Nase saß eine Brille mit
so dicken Gläsern, dass Quinn sich unwillkürlich fragte, wie die kleinen Ohren das Gewicht tragen konnten.
Um den Hals trug sie eine Perlenkette, am Ringfinger einen schmalen goldenen Ehering und am Arm eine Armbanduhr mit einem großen Zifferblatt, das ebenso praktisch aussah wie ihre Schuhe.
»Ich bin Estelle Abbott«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Der junge Dennis hat gesagt, Sie haben nach mir gefragt.«
Da Quinn Dennis an der Information auf Ende sechzig schätzte, musste die Frau, die ihn als jungen Mann bezeichnete, bestimmt zwei Jahrzehnte älter sein.
»Ja.« Quinn stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Quinn Black, Mrs Abbott. Ich bin …«
»Ja, ich weiß. Die Schriftstellerin. Ihre Bücher haben mir gefallen.«
»Vielen Dank.«
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Wenn sie mir nicht gefallen hätten, hätte ich es Ihnen auch gesagt. Sie arbeiten an einem Buch über Hollow.«
»Ja, Ma’am.«
»Sie werden hier einiges an Informationen finden. Manches davon ist sicher nützlich.« Sie blickte auf die Bücher, die auf dem Tisch lagen. »Manches allerdings auch Unsinn.«
»Vielleicht könnten Sie mir ja helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen, indem Sie sich mit mir unterhalten. Ich würde Sie gerne zum Mittagessen oder Abendessen einladen, wenn Sie …«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber unnötig. Sollen wir uns nicht einfach hier hinsetzen?«
»Ja, das wäre wunderbar.«
Estelle setzte sich kerzengerade auf einen Stuhl und faltete die Hände im Schoß. »Ich bin in Hollow geboren«, begann sie, »und lebe seit siebenundneunzig Jahren hier.«
»Siebenundneunzig?« Quinn brauchte ihre Überraschung nicht zu heucheln. »Ich kann normalerweise das Alter anderer Leute gut schätzen, aber bei Ihnen habe ich mindestens zehn Jahre daruntergelegen.«
»Gute Gene«, sagte Estelle lächelnd. »Mein Mann John, der ebenfalls hier geboren und aufgewachsen ist, starb vor acht Jahren. Wir waren einundsiebzig Jahre verheiratet.«
»Was ist Ihr Geheimnis?«
Wieder lächelte die alte Dame. »Man muss miteinander lachen können, sonst erschlägt man sich bei der ersten Gelegenheit.«
»Das muss ich mir aufschreiben.«
»Wir hatten sechs Kinder - vier Jungen, zwei Mädchen -, und alle leben noch. Keiner ist im
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