Abendstern - Roman
muss für Ann Hawkins so oder so schwierig gewesen sein, unverheiratet mit einem Mann zusammenzuleben«, spekulierte Quinn. »Und wenn sie es aus freien Stücken getan hat, wenn es Liebe war, muss sie eine sehr starke Frau gewesen sein.«
»Die Hawkins waren immer schon stark. Ann musste stark sein, um mit Dent zu leben, und sie musste so stark sein, ihn zu verlassen.«
»Warum glauben Sie, dass Ann Hawkins Giles Dent verlassen hat?«, fragte Quinn.
»Weil sie das Leben, das in ihr wuchs, schützen wollte.«
»Vor wem?«
»Vor Lazarus Twisse. Twisse und seine Anhänger kamen 1651 nach Hawkins Hollow. Er war mächtig und brachte die Ansiedlung bald unter seine Gewalt. Er verbot Tanzen, Singen, Musik, und außer der Bibel gab es keine Bücher. Keine Kirche außer seiner Kirche, kein Gott außer seinem Gott.«
»So viel zur Religionsfreiheit.«
»Freiheit war niemals Twisses Ziel. Er war machthungrig, und um seine Ansprüche durchsetzen zu können, benutzte er den Zorn seines Gottes. Je größer Twisses Macht wurde, desto härter wurden auch seine Strafen. Stockhiebe, Auspeitschen, einer Frau die Haare scheren oder einen Mann brandmarken war bei ihm an der Tagesordnung. Und er ließ Hexen verbrennen. In der Nacht des siebten Juli 1652 führte Twisse auf die Anschuldigung einer jungen Frau, Hester Deale, hin einen Mob zum Heidenstein und zu Giles Dent. Was dort passierte …«
Gespannt beugte Quinn sich vor. Aber Estelle schüttelte nur seufzend den Kopf. »Nun, es gibt viele Berichte darüber. Und es gab viele Tote. Die Samen, die seit jeher in der Erde ruhten, regten sich. Manche keimten vielleicht nur, um dann in dem Feuersturm, der über die Lichtung fegte, zu verbrennen.
Weniger zahlreich sind die Berichte darüber, was in der Zeit kurz danach folgte. Aber irgendwann kehrte Ann Hawkins mit ihren drei Söhnen in die Ansiedlung zurück. Und Hester Deale gebar eine Tochter, acht Monate nach dem Brand am Heidenstein. Kurz nach
der Geburt ihres Kindes, von dem sie behauptete, es sei vom Teufel gezeugt worden, ertränkte Hester sich in einem kleinen Teich in Hawkins Wood.«
Nachdem sie sich vorher die Taschen voller Steine geladen hatte, dachte Quinn und unterdrückte ein Schaudern. »Wissen Sie, was aus ihrem Kind wurde? Oder aus den Kindern von Ann Hawkins?«
»Es gibt ein paar Briefe, ein paar Tagebücher, Familienbibeln. Aber wirklich konkrete Informationen sind verloren gegangen oder nie aufgetaucht. Es wird viel Mühe kosten, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Eines kann ich Ihnen sagen, diese Samen haben weitergeschlafen bis zu einer Nacht im Juli vor einundzwanzig Jahren. Dann wurden sie geweckt. Sie blühen für sieben Nächte alle sieben Jahre und ersticken Hawkins Hollow. Es tut mir leid, ich werde in der letzten Zeit so rasch müde. Es ärgert mich.«
»Kann ich Sie irgendwo hinbringen? Sie nach Hause fahren?«
»Sie sind ein liebes Mädchen. Mein Enkel kommt mich abholen. Sie haben wahrscheinlich mit seinem Sohn mittlerweile schon gesprochen. Mit Caleb.«
»Dann ist Caleb Ihr …«
»Mein Urenkel. Ehrenhalber, könnte man sagen. Mein Bruder Franklin und seine Frau, meine liebste Freundin Maybelle, kamen bei einem Unfall ums Leben, bevor Jim - Calebs Vater, geboren wurde. Mein Johnnie und ich haben bei den Enkeln meines Bruders die Rolle der Großeltern übernommen. Ich habe sie und ihren Nachwuchs bei der langen Liste an Nachkommen mitgezählt.«
»Dann sind Sie also eine Hawkins von Geburt?«
»Ja. Unsere Linie geht bis zu Richard Hawkins zurück, dem Gründer, und durch ihn auch zu Ann.« Sie schwieg, damit Quinn diese Informationen erst einmal verdauen konnte. »Mein Caleb ist ein guter Junge, und er trägt ein großes Gewicht auf seinen Schultern.«
»Ich finde, er trägt es gut.«
»Er ist ein guter Junge«, wiederholte Estelle. »Wir sprechen ein anderes Mal weiter.«
»Ich bringe Sie nach unten.«
»Machen Sie sich keine Mühe. Unten im Personalzimmer gibt es Tee und Plätzchen für mich. Ich werde von allen verhätschelt. Sagen Sie Caleb, dass wir uns unterhalten haben und dass ich noch einmal mit Ihnen reden möchte. Und verschwenden Sie nicht den schönen Tag hier drinnen bei den Büchern. Es gibt auch noch ein Leben, das gelebt werden will.«
»Mrs Abbott?«
»Ja?«
»Wer, glauben Sie, hat die Samen am Heidenstein gepflanzt?«
»Götter und Dämonen.« Estelles Augen waren müde, aber klar. »Götter und Dämonen, und dazwischen gibt es nur eine dünne Grenze, nicht
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