Abendstern - Roman
Haus waren. Als das Haus dann abgerissen wurde, hat man sie gefunden. Sie hatte da seit den dreißiger Jahren gelegen. Die Frau des Mannes, dem das Haus gehörte, hatte behauptet, sie sei weggelaufen. Er war damals schon tot, deshalb konnte ihn niemand fragen, warum oder wie er sie umgebracht hatte. Aber ich wusste es. Von dem Moment an, in dem ich sie gesehen hatte, bis zu dem Zeitpunkt, wo man sie fand, träumte ich von ihrer Ermordung. Ich sah, wie es passierte.
Natürlich erzählte ich das niemandem, dazu hatte ich zu viel Angst. Aber seitdem habe ich nichts mehr verschwiegen. Zum Teil wegen Mary Bines - so hieß sie -, aber zum Teil sicher auch, weil ich nicht mehr zwölf bin und niemand mich bestrafen kann.«
Cal schwieg lange Zeit. »Sehen Sie immer, was passiert ist?«
»Ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich sehe oder mehr erspüre. Vielleicht habe ich auch einfach nur zu viel Fantasie, aber ich habe gelernt, meinen Gefühlen zu trauen.«
Er blieb stehen, weil sie an einer Wegkreuzung angekommen waren. »Wir sind damals aus dieser Richtung gekommen und hier weitergegangen. Wir waren
schwer bepackt, weil meine Mutter uns einen Picknickkorb mitgegeben hatte. Sie glaubte, wir wollten auf der Farm von Fox’ Familie zelten. Außerdem hatten wir noch seinen Ghettoblaster dabei, seine Einkaufstüten vom Supermarkt und unsere Rucksäcke, die voll von dem Zeug waren, ohne das Neunjährige nicht überleben können. Wir hatten so gut wie keine Angst. Das änderte sich schnell.«
Als er weitergehen wollte, hielt sie ihn am Arm fest. »Blutet dieser Baum tatsächlich, oder haben Sie hier nur besonders merkwürdiges Harz?«
Er drehte sich um. Aus der Rinde einer alten Eiche sickerte Blut.
»Das kommt ab und zu vor. Es stößt die Wanderer ab.«
»Das kann ich mir denken.« Sie bemerkte, dass Lump nur beiläufig an den Baum schnüffelte und gleichmütig weiterging. »Warum interessiert ihn das nicht?«
»Für ihn ist das ein alter Hut.«
Sie wollte an der Eiche vorbeigehen, blieb aber wieder stehen. »Halt, warten Sie. Das ist die Stelle, wo das Reh auf dem Weg gelegen hat. Ich bin mir ganz sicher.«
»Er hat es mit Magie gerufen. Das Unschuldige und Reine.«
Quinn wollte etwas erwidern, schwieg aber, als sie Cals Gesicht sah. Er war blass geworden, und seine Augen hatten sich verdunkelt.
»Es ist Blut, das bindet. Sein Blut, das Blut des Bösen. Er trauerte, als er dem Tier mit dem Messer den Hals durchschnitt und das Leben sich über seine Hände und in die Schale ergoss.«
Cal wurde es schwindelig, er beugte sich vor. Hoffentlich wurde ihm jetzt nicht schlecht. »Einen Moment. Ich muss erst wieder zu Atem kommen.«
»Lassen Sie sich Zeit.« Rasch nahm Quinn ihren Rucksack ab und holte eine Wasserflasche heraus. »Hier, trinken Sie einen Schluck.«
Als sie ihm die Flasche in die Hand drückte, hatte sich das Schwindelgefühl schon ein wenig gelegt. »Ich konnte es sehen, es fühlen. Ich bin schon häufiger an diesem Baum vorbeigegangen, auch wenn er geblutet hat, aber ich habe es noch nie gesehen.«
»Dieses Mal sind wir zu zweit. Vielleicht wurde es dadurch geöffnet.«
Er trank langsam. Nicht nur einfach zu zweit, dachte er, weil er ja schließlich auch schon mit Fox und Gage hier entlanggegangen war. Wir zwei, dachte er. Es hatte etwas mit ihr in Verbindung zu ihm zu tun. »Das Reh war ein Opfer.«
»Ja, das habe ich mir gedacht. Devoveo. Er hat es auf Latein gesagt. Blutopfer. Die weiße Magie macht so etwas nicht, deshalb musste er auf schwarze zurückgreifen. Ob es Dent war? Oder jemand, der lange vor ihm hierhergekommen ist?«
»Ich weiß nicht.«
Quinn beruhigte sich, als sie sah, dass in seine Wangen langsam wieder Farbe kam. »Können Sie sehen, was vorher war?«
»Nur in Teilen, so ähnlich wie Gedankenblitze. Im Allgemeinen ist mir danach ein bisschen schlecht. Wenn ich es mit aller Macht sehen will, dann ist es noch viel schlimmer.«
»Dann lassen wir es jetzt lieber. Glauben Sie, Sie können weitergehen?«
»Ja. Ja.« Sein Magen hob sich ein wenig, aber das Schwindelgefühl war vergangen. »Wir sind gleich an Hester’s Pool.«
»Ich weiß. Ich kann Ihnen auch sagen, wie es dort aussieht. In der Realität war ich zwar noch nie da, aber ich habe den Teich im Traum gesehen, und vorgestern Nacht war ich dort. Es gibt Rohrkolben und wildes Gras. Er liegt abseits vom Weg, und man muss durch Gebüsch und Dornenranken, wenn man dorthin will. Es war Nacht, deshalb hat das Wasser schwarz
Weitere Kostenlose Bücher