Abendstern - Roman
über diesen Weg zur Lichtung gekommen?«
»Wir sind von Osten gekommen. Das ist der Weg, der am nächsten an der Stadt liegt. Unser Weg ist kürzer, aber eben nur von meinem Haus aus. Bis wir zum Teich kamen, passierte nichts Ungewöhnliches.«
»Waren Sie nach dieser Nacht noch einmal zusammen dort?«
»Ja, mehr als einmal.« Er warf ihr einen Blick zu. »Ich kann Ihnen sagen, dass ich mich schon darauf freue, vor den Sieben noch einmal dorthin zu kommen.«
»Den Sieben?«
»So nennen wir die Woche im Juli.«
»Erzählen Sie mir mehr davon, was in den Sieben passiert.«
Ja, dachte er, das sollte er wohl langsam mal machen. Er sollte es jemandem erzählen, der es wissen wollte, jemandem, der vielleicht Teil der Antwort war.
»Die Leute in Hollow werden gemein, gewalttätig, ja sogar zu Mördern. Sie tun Dinge, die sie sonst nie tun würden. Sie zerstören Häuser, prügeln sich, legen Brände. Und noch Schlimmeres.«
»Morde, Selbstmorde.«
»Ja. Nach der Woche können sie sich an nichts mehr klar erinnern. Es ist, als erwachten sie aus einer Trance oder einer langen Krankheit. Manche sind nicht mehr dieselben. Manche verlassen die Stadt. Und manche reparieren ihr Haus, ihr Geschäft und machen einfach weiter. Es trifft nicht jeden, und es trifft auch nicht jeden gleich schlimm. Es ist so eine Art Massenpsychose, die aber mit jedem Mal schlimmer wird.«
»Was ist mit der Polizei?«
Ganz gegen seine Gewohnheit bückte Cal sich und ergriff einen Stock. Es hatte keinen Zweck, ihn zu werfen, weil Lump sowieso nicht hinterherlaufen würde, also hielt er ihm ihn bloß hin, so dass er ihn ins Maul nehmen konnte.
»Letztes Mal war Chief Larson Polizeichef. Er war ein guter Mann, er ist mit meinem Vater zur Schule gegangen. Sie waren Freunde. In der dritten Nacht schloss er sich in seinem Büro ein. Ich glaube, dass er irgendwie wusste, was mit ihm geschah, und er wollte nicht riskieren, nach Hause zu seiner Frau und zu den Kindern zu gehen. Einer der Sheriffs, ein Junge namens Wayne Hawbaker, der Neffe von Fox’ Sekretärin, kam auf die Wache, weil er Hilfe brauchte. Er hörte Larson in seinem Büro weinen, brachte ihn aber nicht dazu herauszukommen. Als Wayne schließlich die Tür eingetreten hatte, hatte Larson sich erschossen. Jetzt ist Wayne Polizeichef. Auch er ist ein guter Mann.«
Wie viele Verluste hatte er wohl schon erlebt?, fragte sich Quinn. Wie viele Verluste seit seinem zehnten Geburtstag? Und doch ging er immer wieder in diesen Wald, wo alles begonnen hatte. Sie fand ihn ungeheuer tapfer.
»Und die Bundespolizei?«
»Es ist so, als wären wir in dieser Woche von der Außenwelt abgeschnitten.« Ein Kardinal flog auf, leuchtend rot, sorglos frei. »Wir sind die meiste Zeit für uns, so als ob …« Er suchte nach den richtigen Worten. »Es ist, als ob ein Schleier über dem Ort läge und niemand klar sehen könnte. Niemand kommt uns zu Hilfe, und
auch hinterher stellt niemand Fragen. Letztendlich ist es wie eine Legende. Mit den Jahren verblasst die Erinnerung, bis es dann wieder passiert.«
»Aber Sie bleiben, und Sie sehen genau hin.«
»Es ist meine Stadt«, erwiderte er.
Ja, er war wirklich tapfer.
»Wie haben Sie letzte Nacht geschlafen?«, fragte er sie.
»Traumlos. Layla auch. Und Sie?«
»Ebenso. Sonst hat es eigentlich nie mehr aufgehört, wenn es einmal angefangen hat. Aber dieses Mal ist sowieso alles anders.«
»Weil ich und auch Layla etwas gesehen haben.«
»Ja, das ist der große Unterschied. Es hat auch noch nie so früh und so heftig angefangen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Haben Sie jemals Ahnenforschung betrieben?«
»Nein. Glauben Sie, wir sind irgendwie miteinander verwandt?«
»Wir haben immer alle angenommen, dass es irgendetwas mit Blut zu tun haben muss.« Geistesabwesend betrachtete er die Narbe an seinem Handgelenk. »Aber bis jetzt sind wir noch zu keinem Ergebnis gekommen. Wo kommen Ihre Vorfahren her?«
»Hauptsächlich aus England und ein paar aus Irland.«
»Meine auch. Aber viele Amerikaner haben englische Vorfahren.«
»Vielleicht sollte ich einmal recherchieren, ob es Dents oder Twisses unter meinen Vorfahren gibt?« Sie zuckte mit den Schultern, als er die Stirn runzelte. »Ihre
Urgroßmutter hat mich darauf gebracht. Haben Sie schon einmal versucht, Giles Dent oder Lazarus Twisse aufzuspüren?«
»Ja. Dent ist einer meiner Vorfahren, wenn er tatsächlich der Vater der drei Söhne von Ann Hawkins ist. Es gibt keine Spur mehr von ihm, weder
Weitere Kostenlose Bücher