Abendstern - Roman
er von der Arbeit nach Hause fuhr. Die Versicherung versucht sich um die Arztrechnungen zu drücken, aber das lasse ich nicht zu.«
»Scheidung, Testament, Körperverletzung - Sie sind anscheinend auf nichts spezialisiert?«
»Nein, ich mache alles, was mit Recht und Gesetz zu tun hat«, sagte er und lächelte sie an. »Na ja, abgesehen von Steuerrecht, wenn ich es vermeiden kann. Das überlasse ich lieber meiner Schwester. Sie macht Steuer- und Arbeitsrecht.«
»Aber Sie haben keine gemeinsame Kanzlei.«
»Nein, das wäre mir zu anstrengend. Sage ist nach Seattle gezogen, um dort als Lesbe zu leben.«
»Wie bitte?«
»Entschuldigung.« Er fuhr schneller, weil sie die
Stadtgrenze hinter sich gelassen hatten. »Ich wollte nur sagen, dass Sage homosexuell ist und in Seattle lebt. Sie ist eine Aktivistin, und die Kanzlei, die sie mit ihrer Partnerin zusammen führt, heißt ›Von Frau zu Frau‹. Im Ernst«, fügte er hinzu, als Layla schwieg. »Sie haben sich auf Steuer- und Arbeitsrecht für Homosexuelle spezialisiert.«
»Sind Ihre Eltern dagegen?«
»Machen Sie Witze? Meine Eltern sind hellauf begeistert. Als Sage und Paula - so heißt ihre Partnerin - geheiratet haben, oder wie man das nennt, waren wir alle dabei und haben wie die Irren gefeiert. Sie ist glücklich, das alleine zählt. Dass sie sich dabei noch für einen alternativen Lebensstil entscheidet, ist für meine Eltern so eine Art Bonus. Da wir gerade von meiner Familie sprechen, hier wohnt übrigens mein kleiner Bruder.«
Layla sah ein Blockhaus, das hinter den Bäumen beinahe verschwand. Auf einem Schild am Straßenrand stand HAWKINS CREEK TÖPFEREI.
»Ihr Bruder ist Töpfer?«
»Ja, und ein ziemlich guter. Meine Mutter übrigens auch, wenn sie in der richtigen Stimmung ist. Sollen wir mal anhalten?«
»Oh, ich …«
»Nein, besser nicht«, entschied er. »Ridge hat bestimmt zu tun, und Mrs H hat mittlerweile auch Mrs Oldinger angerufen, sie wartet bestimmt auf uns. Ein anderes Mal.«
»Okay.« Konversation, dachte sie. Small Talk. Relative Normalität. »Sie haben also einen Bruder und eine Schwester.«
»Zwei Schwestern. Meiner kleinen Schwester gehört das vegetarische Restaurant in der Stadt. Es ist eigentlich ziemlich gut. Von uns vieren bin ich am weitesten vom blumenbestreuten Weg abgewichen, den meine Hippie-Eltern uns vorgegeben haben. Aber sie lieben mich trotzdem. Wie ist es bei Ihnen?«
»Nun … meine Verwandten sind nicht annähernd so interessant wie Ihre, aber ich bin ziemlich sicher, dass meine Mutter ein paar alte Alben von Joan Baez besitzt.«
»Sehen Sie, schon haben wir wieder etwas gemeinsam.«
Sie lachte, dann keuchte sie vor Entzücken auf, als sie Rehe am Waldrand sah. »Oh, sehen Sie nur! Sind sie nicht wunderschön?«
Fox hielt am Straßenrand, damit sie die Tiere besser beobachten konnte. »Sie sind sicher an Rehe gewöhnt«, sagte sie zu ihm.
»Ja, aber das bedeutet nicht, dass ich sie nicht auch gerne sehe. Als ich ein Kind war, mussten wir sie immer von der Farm verjagen.«
»Sie sind auf einer Farm aufgewachsen.«
Ihr Tonfall sagte ihm, dass sie die hübschen Rehe sah, die Kaninchen, die Sonnenblumen, die glücklichen Hühner. Und nicht das Pflügen, das Hacken, das Jäten, das Ernten. »Eine kleine Familienfarm. Wir haben unser eigenes Gemüse gezogen, Hühner und Ziegen gehalten, Bienen. Von dem Ertrag haben wir gelebt, wie auch vom Kunsthandwerk meiner Mutter und den Holzarbeiten meines Vaters.«
»Leben Ihre Eltern immer noch dort?«
»Ja.«
»Meine Eltern hatten ein kleines Bekleidungsgeschäft, als ich ein Kind war. Sie haben es vor etwa fünfzehn Jahren verkauft. Ich hätte gerne - O Gott, oh, mein Gott!«
Sie klammerte sich an seinen Arm.
Der Wolf sprang aus den Bäumen auf den Rücken eines jungen Rehs. Es bäumte sich auf, schrie - sie konnte die schrillen Angst- und Schmerzensschreie hören - und blutete, während die anderen Tiere darum herum ruhig weitergrasten.
»Es ist nicht real.«
Seine Stimme drang blechern und wie von fern an ihr Ohr. Vor ihren entsetzten Augen zerriss der Wolf das Reh.
»Es ist nicht real«, wiederholte er. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, und sie spürte, wie etwas klickte. Etwas in ihr drängte zu ihm, weg von dem Entsetzen am Waldrand. »Sehen Sie hin!«, befahl er ihr. »Sehen Sie hin, dann wissen Sie, dass es nicht real ist.«
Das Blut war so rot, so nass. Wie ein hässlicher Regen legte es sich auf das Wintergras. »Es ist nicht
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