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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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…?
    Der Rechtsanwalt sah Holt mit einem forschenden Blick an,ehe er die Brille abnahm. »Persaepe accidit, ut utilitas cum honestate certet«, sagte er bedächtig. »Sehen wir davon ab, den Ehrbegriff zu erläutern, den Sie da ins Feld führen. Gut, gut … Sie haben recht,
ich
habe ihn ins Feld geführt. Es genüge vielmehr die Frage, ob Sie sich in der Lage fühlen zu beurteilen, wann denn der ›zwingende Grund‹ gegeben sei. Aber lassen wir das.«
    Gilbert müßte hier sein, dachte Holt verärgert, er würde ihm schon erklären, unter welchen Umständen eine Kapitulation gerechtfertigt ist! Das Gespräch war ihm zuwider. Gomulka mischte sich ein. »Entschuldige, Papa. Das Gerede führt zu nichts. Damit ist uns nicht gedient. Solche Spitzfindigkeiten«, sagte er mit erhobener Stimme, »würzen vielleicht ein Tischgespräch, aber sie geben uns keinen Halt.«
    »Nein, nein«, entgegnete der Anwalt, »ganz recht, gewiß nicht … Aber es gibt erst recht keinen Halt, wenn man sich über tiefgehende innere Zerwürfnisse hinwegsetzt.«
    »Wobei es wahrscheinlich ist«, rief Gomulka geradezu verbittert, »daß sich gewisse Zerwürfnisse, die ich lange mit ansehen mußte, erst recht demoralisierend ausgewirkt haben!«
    Der Rechtsanwalt sog an seiner Pfeife. Er furchte die Stirn. Frau Gomulka hob den Blick und sagte kühl: »Ich glaube, im letzten Jahr haben sich ganz andere Dinge demoralisierend auf dich ausgewirkt.« Gomulka war erregt: »Wofür ihr nicht das geringste Verständnis habt!«
    Der Rechtsanwalt nahm die Pfeife aus dem Mund. »In entscheidenden Fragen«, sagte er ruhig, wenn auch tadelnd, »hast du deine Eltern niemals anders als einmütig gesehen. Deine Anspielung auf gewisse Zerwürfnisse verdient also äußerst taktlos genannt zu werden, noch dazu in Gegenwart eines Gastes. Est adulescentis maiores natu vereri.« Diese Phrase schien Gomulka noch mehr zu verbittern, denn er rief: »Stultus es … qui facta infecta facere verbis cupias! Laß doch die weisen Sprüche, Papa, dein Latein imponiert mir ja nun weiß Gott nicht!« – »Und was unser angebliches Unverständnis für deine Erlebnisse im Ruhrgebiet anbelangt«, fuhr der Anwalt mit unerschütterlicher Ruhe fort, »so wollen wir mit ihrer Hilfe lediglich deinen Gesichtskreis erweitern.Lassen wir das. Ich habe diese Differenzen vorausgesehen und nehme dir nichts übel. Denn wo anders als zu Hause vermöchtest du auch, deinem jugendlichen Oppositionsdrang ungestraft nachzugehen?«
    Holt war diese Szene peinlich. Er sagte, so unbefangen wie möglich: »Bitte erlauben Sie, daß ich mich verabschiede.« Vielleicht hatte er den unglückseligen Streit durch seinen Widerspruch provoziert. »Mein Widerspruch war ungehörig«, sagte er aufrichtig, »und er war falsch. Man verteidigt oft nach außen hin Dinge, die … hier innen drin ganz und gar nicht so klar sind. Vielleicht verteidigt man sie gerade deshalb! Auf Wiedersehen, gnädige Frau. Danke, es wird schon schiefgehen. Heil Hitler, Herr Doktor.«
    Sepp brachte ihn durch den Vorgarten. Er war noch immer aufgeregt. Holt sagte beschwichtigend: »Nimm’s doch nicht so tragisch, Sepp! Ich kenn das! Mit meinem Vater geht mir’s genauso.« – »Aber der Wahnsinn ist ja, daß er recht hat!« rief Gomulka. »Er hat recht, ja! Aber ich kann’s nicht zugeben, nicht so ohne weiteres, ich kann nicht!« – »Schwimm dich frei, Sepp«, sagte Holt, »wir müssen selber durch den Dreck!« … Durch die sieben Höllen, dachte er.
    Er ging die Allee entlang. Schluß jetzt mit der Selbstzerfleischung! Ich denk nicht dran, mich selber fertigzumachen! Auf einen imaginären Punkt schauen, dachte er, und vorwärts, marsch!
     
    Er schaute bei den Tennisplätzen auf der Parkinsel eine Weile dem Spiel zweier Mädchen zu. Dann wartete er auf der Brücke. Es war schon drei Uhr vorbei. Er lehnte mit dem Rücken am Holzgeländer, in der sengenden Sonne, und warf den Zigarettenrest in das faulige, abgestandene Wasser. »Nun komm schon«, sagte er laut. Er sah immer wieder auf die Uhr und wunderte sich, daß von Mal zu Mal kaum Minuten verstrichen waren. Die Zeit ist aus den Fugen! Er sagte: »Komm!« Aber als sie dann aus der engen Gasse in den Inselweg einbog, erschrak er und stand wie festgenagelt am Geländer. Sie ging langsam über die Brücke, als sehe sie ihn nicht. Erst als er ihren Namen rief, blieb sie stehen.
    »Ich wußte ja gar nicht, ob dir’s ernst war«, sagte sie unbefangenund sah aus großen Augen zu ihm auf.

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