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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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»Ich war komisch gestern, nicht? Ich hab erst über alles nachdenken müssen.« – »
Ich
war komisch«, widersprach er. »Ich hab unmögliches Zeug geredet, da mußte ich dir ja ganz unheimlich werden!« Sie lachten beide; das nahm die letzte Befangenheit. »Gehn wir baden? Wir können auch ein Stück wandern.« – »Wie du willst«, antwortete sie.
    Gleich hinter dem Gerichtsgebäude führte ein Feldweg den Berg hinan und mündete in einen breiten und stillen Waldweg. Holt litt unter der Hitze und zog die Mütze durchs Koppel. Auf der Höhe wehte der Wind dann kühlend über sie hin. Holt erzählte, was ihm gerade einfiel, von Wolzows »schlagartiger Aktion« gegen die Hamburger, damals, vor dem Weihnachtsurlaub.
    »Der große?« fragte sie. »Ist das dein Freund? Ich glaube, er … hat kein Herz.« Er fragte verblüfft: »Wie meinst du das?« – »Gestern, als sie alle vorbeigingen«, sagte sie, »da hat er mich angeschaut. Er sieht so … gleichgültig aus.« – »Aber er ist ein treuer Freund«, rief Holt, und er rief es gleichsam auch sich selbst zu. Er erzählte weiter und gab sich Mühe, die Situation anschaulich zu schildern, wie Wolzow das Aquarium nach Günsches Bett geworfen hatte … »Das ist schrecklich!« rief Gundel. »Und die Fische?« – »Es waren keine drin«, log Holt, »bloß leere Schneckenhäuser, Steine und so was.« – »Ich glaube, er hätte es auch mit den Fischen hingeworfen«, sagte sie. Holt schwieg. Er sah Wolzow im Biologiezimmer Zickels Zierfische an die schnurrende Katze verfüttern …
    Der Wald nahm sie auf. Der Weg war kühl und schattig. In den Wipfeln rauschte das Laub. »Du sagst ja gar nichts mehr.« Er meinte: »Ich überleg. Hab ich auch kein Herz?« – »Du mußt nicht gekränkt sein«, sagte sie. »Ich wollte deinen Freund nicht beleidigen.« Er fand sie eigenartig, ganz anders als die Mädchen, die er kannte. »Die anderen«, begann er vorsichtig, »haben gesagt, du sonderst dich ab … du weichst allen aus … Aber warum hast du mich dann gestern nicht weggeschickt?«
    »Ich weich allen aus«, wiederholte sie, »ja, das stimmt. Die einen wissen nichts und reden immerfort von Zusammennehmen. Dasertrag ich nicht. Die anderen wissen nur die Hälfte und haben Mitleid, oder sie heucheln. Mitleid mag ich nicht. Überhaupt … ich paß nicht zu denen.« – »Und ich?« fragte er. »Bei dir«, sagte sie nachdenklich, »hatte ich das Gefühl, du … könntest wirklich
mich
meinen.« – »Das versteh ich nicht«, entgegnete er. – »Ich weiß schon, was ich sagen will. Ich kann es bloß nicht richtig ausdrücken … Außerdem könnte es ja sein, daß du mich brauchst.« In einer impulsiven Regung streckte er die Hand nach ihr aus. Sie wich zur Seite, bis an den Rand des Weges, doch dann folgte sie ihm durch das kniehohe Farnkraut zum Waldrand, wo die Sonne auf Brombeerhecken lastete. Der gelbe Roggen neigte sich schwer im Wind. Jenseits des Talgrundes auf dem Hügelrücken ragte der Rabenfelsen in den Himmel. »Setz dich«, sagte er, »der Boden ist trocken, es gibt auch keine Ameisen hier.«
    Sie saß mit untergeschlagenen Beinen im Gras und zupfte einen Faden aus dem Rocksaum. Holt legte sich lang auf den Boden und verschränkte die Hände unter dem Kopf. »Erzähl mir was.« Er sah, daß sie überlegte. »Du hast keine Eltern mehr? Erzähl mir von deinen Eltern.« Sie zögerte und sah zu dem schwarzen Basaltfelsen hin. »Von meinem Vater weiß ich nichts«, sagte sie schließlich. »Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Ich war erst vier Jahre alt, als er verhaftet wurde.«
    Verhaftet? Sie kann kein … Verbrecherkind sein … Hätte ich bloß nicht gefragt! dachte er müde … Sie beobachtete ihn.
    »Es war im Februar 1933«, erzählte sie. »Er ist nie wiedergekommen, aber er hat noch lange gelebt, in einem Lager. Ich war schon elf Jahre alt, als die Todesnachricht kam, am 3. August 1940. Meine Mutter hat nie von meinem Vater gesprochen. Aber als der Brief kam, da war sie weiß wie die Wand. Ich hör noch jedes Wort. Sie hat gesagt: ›Ich hab geschwiegen, weil ich gedacht hab, ich kann ihm helfen, daß er zurückkommt … Aber jetzt‹, hat sie gesagt, ›jetzt kann ich nicht mehr schweigen.‹ Ich hab das nicht verstanden. Ein paar Tage später ist sie abends zu mir ans Bett gekommen. Sie hat gesagt: ›Sie haben deinen Vater bespuckt, sie werden auch deine Mutter bespucken, aber du darfst niemals glauben, was sie von uns behaupten.‹«
    Gundel flüsterte

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