Abenteuer des Werner Holt
Ablösung.
Schulze und seine Leute nisteten sich im Erdgeschoß ein, links, in dem Zimmer des Hausmeisters, das als Wachlokal benutzt wurde. Dort waren ein paar Munitionskisten aufgestapelt; auf einem Tisch lag das Wachbuch. Holt hatte gemeinsam mit Gomulka von Mitternacht bis zwei Uhr morgens Posten zu stehen. Die anderen beiden Züge waren am Vormittag zu den wenigen umliegenden Dörfern marschiert, wo sie Heu und Stroh zu beschlagnahmen und zum Bahnhof zu bringen hatten. So war der Trupp Schulze allein im Schulhaus.
Am Mittag saß Holt mit Wolzow im Wachlokal. Wolzow hatte deutsche Zeitungen aufgetrieben, sie waren nicht mehr ganz neu. Er rauchte und las. Holt fragte: »Wie sieht es an den Fronten aus?«Wolzow ließ das Blatt sinken. »Daß Finnland kapituliert hat, das weißt du? Bulgarien hat nun auch die Beziehungen zum Reich abgebrochen. Und an der Invasionsfront muß es eine üble Geschichte gegeben haben, die Front scheint in Auflösung zu sein. Nur an der Riviera gibt es noch feste Linien. Lyon ist gefallen, die Mosel erreicht.« Er fragte mürrisch: »Genügt das? Im Osten hat die Entwicklung einen reißenden Verlauf angenommen. Im Mittelabschnitt stehn sie vor Warschau …« – »Warschau?« rief Holt erschrocken. – »Ja. Der Aufstand ist immer noch nicht niedergeschlagen. Im Nordabschnitt greifen die Russen an, bei Narwa sind sie durch die Front gebrochen. Nun rollt auch in der Ukraine eine Offensive, die Russen können bald in den Karpaten sein, sozusagen Wand an Wand mit uns hier. Das siebenbürgische Kronstadt ist schon gefallen. Der Stoß zielt offenbar nach Ungarn hinein … Noch was? Ja, richtig, die V 2! Die Briten scheinen sie nicht schlechter zu verdauen als die V 1.«
Holt fragte, wie er schon oft gefragt hatte: »Wie soll denn das um Gottes willen weitergehen?« – »Na, halt irgendwie«, sagte Wolzow. »So’n Krieg ist zum Glück recht zählebig, und jetzt wird ja auch allerhand getan, ihn wieder ordentlich hochzupäppeln! Goebbels hat ganz radikale Maßnahmen zum totalen Kriegseinsatz erlassen, Schulen werden geschlossen, fast das ganze Schrifttum wird stillgelegt, das preußische Finanzministerium ist aufgelöst, und so weiter. Hier, im ›Völkischen Beobachter‹, der ist allerdings schon bißchen älter, da ist eine Rede abgedruckt, die der Staatssekretär Dr. Naumann zum Eintritt ins sechste Kriegsjahr gehalten hat, in Danzig. Es heißt hier, Doktor Naumann gab …« – »Laß mich lesen!« sagte Holt. Wolzow reichte ihm die Zeitung. Holt überflog den Vorspann: »… gab ein ungeschminktes, durch keinerlei Winkelzüge beschönigtes Bild der Lage … getragen von der Gläubigkeit des Nationalsozialisten … seinen Zuhörern gleichzeitig die deutschen Siegeschancen überzeugend zu begründen vermochte … klang die Kundgebung in einem einzigen großen Bekenntnis zum Führer und seiner Idee aus …« Wo steht denn die Begründung unserer Siegeschancen? Das muß ich unbedingt lesen! Er überflog den Wortlaut: »… totaler Erfolg dahernur durch einen totalen Einsatz möglich … Wellenberge und Wellentäler … Tage des Eintritts in das sechste Kriegsjahr fallen in ein solches Wellental … unseren Feinden einige Tatsachen zur Kenntnis gebracht, in denen die Überwindung aller Krisen bereits vorgezeichnet … Erstens: der Führer ist nicht vom deutschen Volk zu trennen, und das deutsche Volk steht bedingungslos zu ihm … zweitens: das deutsche Volk ist nationalsozialistisch, nicht allein in glücklichen, sondern erst recht in schweren Tagen … drittens: es gibt kein Versagen der deutschen Heimat, in der Gewißheit des Sieges …« Ja aber die Begründung der Siegeschancen, wo ist sie denn? Holt las hastig weiter: »… kämpfen wir um die Zeit, die wir zur Mobilisierung unserer Reserven noch benötigen …« Aha! Wolzow fragte: »Spielst du einen Offiziersskat mit?« Holt schüttelte den Kopf. Er las. »Unsere Gegner täuschen sich«, las er, »wenn sie sich am Vorabend des Sieges wähnen … neue Divisionen rücken an die Front … Festung Deutschland wird verteidigt werden, wie nie zuvor eine Festung verteidigt wurde, dann aber wird unsere Stunde kommen …« Dann, dachte Holt, dann …
wann
? »… steht das deutsche Volk … gehärtet und im Schmelztiegel seines Kampfes gestählt wie nie zuvor … wilden und fanatischen Entschlossenheit durchdrungen, sein Land, sein Leben und seine Weltanschauung bis zum letzten Blutstropfen zu behaupten … Weltanschauung … kämpft für
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