Abenteuer des Werner Holt
auf dürren Hälsen … nackte, blaugefrorene Füße in Holzpantoffeln … ein Spuk und doch Wirklichkeit … Das lebte, das schleppte sich gebeugt, tödlich erschöpft die Straße entlang, das zog an Seilen schwere Leiterwagen, wankte in Haufen daher, stützte einander, und ein Stöhnen wehte über den Zug, ein Hauch von Tod und Verwesung …
»Das … das ist ein KZ!« flüsterte Vetter aufgeregt. »Alles Schwerverbrecher, solche Untermenschen, Kommunisten!«
Eines der lebenden Skelette wankte und fiel. Die Gestalt in dem gestreiften Drillich lag im Chausseedreck, das Gesicht im Schlamm … Auf der dünnen Jacke sah Holt ein rotes, auf die Spitze gestelltes Dreieck … Die nachdrängenden Gestalten stiegen hilflos darüber hinweg. Ein SS-Mann blieb stehen und stießmit dem Fuß an das Menschenbündel, nicht derb, mehr probeweise. Der Gestürzte hob mühsam den Kopf, zog ein Knie unter den Leib und blieb dann reglos liegen. Das Gesicht des SS-Mannes blieb unbewegt. Die Runen glitzerten auf den Spiegeln. Er bückte sich und zog den Gestürzten mühelos am Arm hinter sich her zum Straßenrand und warf die gestreifte Gestalt in den Straßengraben. Dann zog er die Pistole. Der Schuß knallte.
Da hing ein spitzer, dünner Schrei in der Luft. Peter Wiese ließ den Karabiner fallen und sprang ungeschickt, mit erhobenen Fäusten gegen den SS-Mann los. Ein Fausthieb warf ihn zurück, aber Wiese kam nicht zu Fall, und er stürzte sich zum zweitenmal auf den Posten, mit seinen schwachen Fäusten; die Mütze mit den Runen und dem Totenkopf fiel in den Dreck … Wiese klammerte sich verzweifelt an dem Posten fest. Der stieß mit dem Pistolenlauf in Wieses Gesicht, schleuderte ihn von sich und schoß.
Mitten auf der Landstraße blieb Peter Wieses Leichnam zurück, an dem die gestreiften Gestalten scheu vorbeistrebten. Holt bückte sich, drehte Wiese auf den Rücken und blickte in das Gesicht, das der Schlag mit der Pistole entstellt hatte. Der Schuß war in den Hals gedrungen »Peter!« sagte Holt. »Mensch … Wiese!« Ein Trupp SS-Leute kam die Chaussee zurück. »Hier, Oberscharführer, er liegt noch genau an der Stelle …«
Holt wandte sich nicht um. Die SS-Leute verschwanden hinter der Biegung der Straße im Wald. Der graue Zug der drillichgekleideten Gestalten endete.
Wolzow fluchte. Er brannte sich eine Zigarette an. »Der Wiese war schon immer verrückt! Was gehn ihn diese Verbrecher an!« Vetter rief: »Das hat er von seinem Latein …!« Die Soldaten trugen sieben tote Häftlinge zusammen. Leutnant Wehnert kam zurück und ließ sich von Wolzow unter vier Augen berichten. Man hob unterdessen ein großes Grab aus. Niemand zeigte Mitleid mit Wiese. Wehnert befahl. »Er wird mit den Verbrechern begraben.«
Holt trat an das offene Erdloch. Daß ich jetzt hier zuschau, wie sie ihn verscharren, das ist erbärmlich. Warum lieg ich nicht auchin der Grube, und ein paar SS-Leute dazu? Das wäre eine Lösung gewesen.
Er dachte: Jetzt gibt es für mich überhaupt keine Lösung mehr.
»Zuschaufeln!« befahl Wolzow.
Holt fragte: »Was ist aus … unseren Idealen geworden? Wollten wir nicht für Gerechtigkeit kämpfen? Hast du nicht den Meißner zusammengeschlagen, weil er ein Unrecht begangen hatte?«
»Das war Kinderei«, entgegnete Wolzow. »Damals warn wir dumme Jungs.«
»Und heute? Was sind wir heute?«
»Soldaten.«
»Soldaten …«, wiederholte Holt.
»Jetzt ist es aber genug«, rief Wolzow. »Jetzt reiß dich zusammen! Das ist der ganze Miesepeter nicht wert, daß ein Kerl wie du deswegen umkippt!«
Ein Kerl wie ich! dachte Holt.
Ein Erdklumpen fiel auf Wieses Kopf, der nächste Schaufelwurf bedeckte das entstellte Kindergesicht. Leb wohl! Trag mir’s nicht nach!
Er ging davon.
Er dachte: Dieser Wiese war unter uns der wirkliche Held. Panzerknackerei und Nahkampferfahrung, das ist alles Verzweiflung. Ich kann mich in der Stadt am Fluß nicht mehr sehen lassen. Wie soll ich Wieses Eltern in die Augen schaun, wo ich zugesehn hab? Wie soll ich vor Gundel hintreten? Ich weiß doch, daß die Gestreiften wie ihr Vater waren. Ich hab keinen Finger krumm gemacht, ich hab zugesehn. Jetzt bleibt mir keine Wahl mehr.
Einen imaginären Punkt suchen, festklammern mit dem Blick … und vorwärts, marsch!
12
Eine Volkssturmeinheit löste den Ausbildungszug ab, besetzte die Feldstellung und übernahm den Wachdienst an der Panzersperre. Wehnert brachte seinen Zug mit der Eisenbahn in die Nähe von Leipzig,
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