Abenteuer des Werner Holt
herunter und nahm den Gehörschützer aus dem Ohr. Sein Gesicht war naß. Hab ich geweint? Der gewaltige, unheimliche Brand im Westen erhellte schwach den Geschützstand. Holt starrte in das ferne Flammenmeer. Da sind jetzt Menschen, mitten im Feuer, dachte er. Aber keine Vorstellung verband sich mit diesem Gedanken … Gomulkas Gesicht war fremd und gealtert. Ziesche rief: »Munitionsverbrauch!« – »Wer soll denn die Kartuschen zählen, jetzt in der Nacht?« sagte Wolzow. Ziesche schrie ungeduldig: »Zählt doch die leeren Körbe in den Bunkern!«
Schmiedling saß auf einem Holm und kümmerte sich um nichts, rauchte und sagte zu Holt: »Da hab i halt’s große Los gzogen, mit der Bedienung!«
»Munitionsverbrauch!« schrie Ziesche wieder. »Diese Flakwehrmänner, faul wie die Pest!« schimpfte Wolzow. Endlich kam die Meldung: »Vierunddreißig leere Körbe!« Das waren hundertzwei Schuß. Ziesche gab eine letzte Luftlagemeldung: »Alle Verbände im Abflug über Holland. Gefechtsschaltung aufgehoben.« Die Luftwaffenhelfer durften ins Bett. Batteriekommando und Flakwehrmänner schleppten Munitionskörbe an die Kanonen und beseitigten die Schäden, die der Luftdruck der Abschüsse an Geschützständen und Baracken angerichtet hatte.
Holt ging mit Gomulka durch die brandrote Nacht. »Ehrlich, Sepp … Hattest du Angst?« Gomulka zögerte mit der Antwort. »Ja, ich hatte Angst …« – »Es ist wohl auch keine Schande«, sagte Holt. »Man muß nur damit fertig werden.«
»Herhören! Was sich heut nacht an Frieda abgespielt hat, das genügt fürs Kriegsgericht!« Kutschera stand vor der angetretenen Batterie, die Hände in den Manteltaschen. »Macht, wozu sind Sie Waffenmeister, wenn die Spritze bei dem bißchen Schießenauseinanderfällt?« Er brüllte immer, aber jetzt war seine Stimme ungeheuer: »Wenn die Kanone nicht besser in Schwung kommt, sperr ich die ganze Bedienung ein!« Der Hund erhob sich auf die Vorderpfoten und knurrte. Kutschera trat mit dem Stiefel nach ihm. »Du hältst’s Maul, Mensch! … Die andern Geschütze waren gut. Bei Anton ging’s rund, da war die Tollwut ausgebrochen?« Die Oberhelfer flüsterten miteinander. »Der Wolzow ist ein Gauner!« dröhnte Kutscheras Stimme. Und zu Gottesknecht: »Geben Sie ihm Extraausgang.« Ein paar Sekunden stand er unschlüssig vor der Batterie. »Ach, Quatsch!« sagte er, drehte sich um, und der Morgennebel verschluckte ihn.
Auf dem Fahrweg warteten die Munitionswagen. Die Jungen schleppten bis zum Mittagessen Patronenkörbe zu den Bunkern der Zweitausstattung. Den Nachmittag verschliefen sie.
Tag und Nacht trieb sie die Glocke ans Geschütz. Dies war ihr Leben, für lange Zeit.
5
Im November brachten die Nächte klirrenden Frost. Der zähe Nebel, der morgens über der Stellung hing, wich oft bis zum späten Mittag nicht. Täglich zogen die Bomberpulks über den Himmel. Die ständigen Alarme, die Nächte am Geschütz und das Feuer, mit dem Hauptmann Kutschera jede Maschine bedachte, waren den achtundzwanzig Jungen schnell zur Gewohnheit geworden. Am Mittag des 5. November waren Essen, Gelsenkirchen und Münster schwer bombardiert worden, und die Bomben, die den umliegenden Industriewerken galten, fielen bis dicht an die Feuerstellung.
Eine Woche später lag Holt des Nachmittags auf seinem Bett. Wolzow las in seinen strategischen Lehrbüchern, die anderen spielten Skat. Ziesche las aus der Zeitung vor. »›Es gibt höchstens einzelne Verbrecher in Deutschland, die durch einen Sieg der Alliierten etwas gewinnen wollen, und mit diesen Verbrechern werden wir fertig!‹ … Was das ist?« sagte er auf Gomulkas Frage. »Ja, schläfst du denn? Die Führerrede vom 9. November!« Er las weiter:»Hier, zum Luftkrieg! ›… die Herren mögen es glauben oder nicht, aber die Stunde der Vergeltung wird kommen!‹ – ›… die Männer sind aufgesprungen, haben die Arme zum Gruß erhoben und riefen mit feuchtblanken Augen stolz und beglückt Heil um Heil ihrem geliebten Führer zu …‹« – »Lies lieber mal den Wehrmachtbericht«, sagte Gomulka ungerührt, »über den Fall von Kiew kann man nämlich auch feuchtblanke Augen bekommen!« Ziesche warf ihm einen bösen Blick zu und las mit seiner heiseren, etwas hohen Stimme: »›Sonnenschein kann jeder vertragen, aber wenn es wettert und stürmt, dann zeigen sich erst die harten Charaktere, und dann erkennt man auch den Schwächling …‹« Holt war so müde, daß er nur noch Satzfetzen
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