Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
extrem zufrieden. Morgen geht‘s hinaus in die Einsamkeit - Meseta, ich höre dich rufen! Freu… .
Dörfliche Idylle in Rabé
Tag 68, Rabé – Boadilla del Camino 49 ,5 km
Anmerkung: Diesen Tag gibt’s ausnahmsweise nicht in der Rückbetrachtung, sondern als eine Art Live-Tagebuch. Warum? Weil er so besser zur Geltung kommt! Vielleicht bilde ich’s mir aber auch nur ein, weil ich immer noch völlig verblendet bin.
Über 9 Stunden tiefsten Schlafes liegen hinter mir, als ich um 7:30 Uhr starte. Ein paar Wölkchen bedecken zwar den Himmel, ich bin aber sehr zuversichtlich, dass es im Laufe des Tages aufreißt. Nach Regen sieht’s nicht aus. Vorbei an der hübschen Friedhofskapelle verlasse ich Rabé und befinde mich sofort mitten in der Natur. Es ist so, als würde ich durch einen Eingang in eine völlig neue Kulisse marschieren. Ich schaue voraus und sehe endlose Getreidefelder. Dazwischen schlängelt sich ein schmaler Weg, der immer kleiner wird und verschwindet, weil ihn meine Augen nicht mehr erfassen können. Ich tauche ein in einen völlig neuen Camino. Das, was ich bisher als Vorboten der Meseta empfunden habe, schrumpft auf ein deutlich kleineres Maß zusammen. Die Meseta ist eine neue Dimension. Nun lässt sich erahnen, was mich in den nächsten Tagen erwartet. Noch finde ich es wunderbar. Einöde? Nicht doch! Nach den vergangenen Tagen ist es ein Gefühl der Befreiung, in die Weiten einer Landschaft hinauszuschauen, die keine Grenze zu kennen scheint. Üppige, kräftig rote Mohnblumen schmücken den Weg rechts und links mit Farbe. In meinem Körper müssen sich wilde Kettenreaktionen abspielen. Die Augen senden optische Reize ans Gehirn, das Gehirn schüttet unkontrolliert Glückshormone aus und das Herz spielt verrückt vor Freude. So in etwa lässt sich meine Verfassung auf den ersten Kilometern kurz aber treffend wiedergeben. Ist es ein Wunder, dass die Sonne mit einem wandernden Licht- und Schattenspiel über die Felder hinweg dem Fest der Sinne die Krone aufsetzt? Was geht in solchen Momenten völlig ungesteuerter innerer Ekstase in einem Menschen vor? Ich weiß es nicht und es ist mir egal, es ist nur geil! Wie schön es nun tatsächlich ist, kann ich objektiv nicht sagen, dafür bin ich viel zu sehr auf Höhenflug. Sind es solche oder ähnliche Empfindungen, die Menschen zu Drogen greifen lassen? Who knows? Wenn es so ist, dann erklärt es die Suchtgefahr, die von ihnen ausgeht. Will denn nur mal hoffen, dass mein Rausch ungefährlich ist und der Absturz nicht so brutal ausfällt, wie der nach dem Konsum von Drogen. Der absolute Hammer! Es zu beschreiben, ist unmöglich. Wozu auch? Ich erlebe es ja! Mein Hochgefühl begleitet mich bis Hornillos del Camino. An den optischen Eindrücken ändert sich bis dahin wenig bis gar nichts, hin und wieder mal ein paar alte Steinhäuser, die nicht von dieser Welt scheinen, das ist es – und reicht bei mir für ein ultimatives Genussempfinden! Wahnsinn!
In dem steinalten Dorf Hornillos kehre ich auf einen Milchkaffee ein und treffe dort ein paar andere Pilger. Einer davon ist der Holländer, den ich die vergangenen Tage mit seinem Freund gesehen habe. Der ist aber nur für eine Woche mit ihm gegangen und gestern von Burgos nach Holland zurückgereist. Ich werde von Heidi angequatscht, einer quirligen und gutgelaunten Kanadierin, die von Victoria, British Columbia die lange Reise angetreten hat, um den Jakobsweg zu gehen. Ich habe das Gefühl, alle sind heute so gut drauf. Heidi schwebt jedenfalls auch auf einer Wolke, ist total aufgedreht. „I have so much power, I am full of energy, it is just amazing!“ Sie wundert sich über sich selber. Es muss wohl an diesem Abschnitt liegen, der irgendetwas in uns bewirkt, dass wir uns einfach in ihn fallen lassen. Jeder von uns möchte alleine weitergehen, für sich genießen, was der Weg uns schenkt. Wir „verabreden“ uns zur nächsten Kaffeepause in Hontanas. Es lässt nicht nach, die Euphorie hält an, ein paar Hochebenen, ein paar Tiefebenen, dazwischen die abgelegene Albergue von San Bol, riesige knallrote Teppiche aus Mohnblumen mischen sich zwischen die Getreidefelder, ich werde weiter von vorne bis hinten verwöhnt. Auf einer Hochebene drehe ich mich einmal im Kreis und sehe rundherum nichts außer flachem Land und Himmel, so endlos weit, wie ich es bisher nur aus Kanada und Amerika kannte. Wattebäuschchen gleich bilden viele kleine weiße Wölkchen
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