Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)

eine Dekoration, die man nicht perfekter malen könnte. Hier oben schreie ich meine Freude lauthals heraus. Ohne, dass sich am Ausblick irgendetwas verändert, gehe ich weiter, immer weiter. Es sieht so aus, als kommt nichts mehr – und dann steht man plötzlich vor einer Senke, in der sich ein Dorf versteckt, das aussieht als hätte man es vor ein paar hundert Jahren hier vergessen. Hontanas! Man muss es gesehen haben, um es zu begreifen. Es ist von einzigartiger Schönheit! Vor der einzigen Bar setze ich mich in die Sonne und bestelle mir einen Kaffee. Heidi ist schon da, und wenig später kommt auch Jos, der Holländer dazu. Er ist zuhause in Holland gestartet und in etwa genauso lange unterwegs wie ich. Heidi sorgt mit ihrer fröhlichen Art für Stimmung und strotzt immer noch vor Kraft. Sie hat noch keine Ahnung, wie weit es heute für sie geht. Während Heidi und Jos fast zeitgleich weitergehen, bestelle ich mir noch einen Kaffee, ich will diesen Ort einfach noch etwas länger genießen. Auch auf dem weiteren Weg bleibt es phantastisch schön. Wenn es diese Landschaft nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Mit San Anton passiere ich eine sonderbare Ruine, die sich wie eine Brücke über die Straße spannt – Überreste eines im 12. Jahrhundert gegründeten Klosters. Kurz dahinter laufe ich auf einen inbrünstig singenden Italiener auf, der in Hornillos mit an unserem Tisch gesessen hat. Als er mich bemerkt, stoppt er seine italienische Arie und stimmt „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ an. Er war schon auf der Wies’n und ist absolut textsicher! Aus voller Kehle unterstütze ich ihn. Unser Gesang muss bis Castrojeriz zu hören sein. Jeder, der uns hier begegnet wäre, hätte uns wahrscheinlich für völlig durchgeknallt erklärt. Was mischt man uns Pilgern hier in den Kaffee, frage ich mich? Nach dem gemeinsamen Gesang lasse ich den lustigen Italiener hinter mir. Mit seiner bemerkenswert guten Stimme beginnt er ein neues italienisches Lied, während ich mit meinem musikalischen Nichtkönnen der Situation entsprechend „Oh wie ist das schön“ anstimme. Danach ziehe ich es vor, den Italiener alleine weitersingen zu lassen. Ich höre ihn noch, als er schon ein paar hundert Meter hinter mir ist. Wahrscheinlich geht er den Camino von vorne bis hinten singend. Der Ort Castrojeriz am Fuß einer alten Ruine wurde offensichtlich nur in die Länge gebaut und bietet, von unten kommend, einen surrealen Anblick, besonders durch die aus dem 13. Jahrhundert stammende Steinkirche im Vordergrund.
     
    Was will mir der Weg eigentlich heute noch alles bieten? Das ist schon jetzt die totale Reizüberflutung. Ich mache mir langsam Sorgen, dass der Tag meinen kompletten Vorrat vorhandener Glückshormone verschießt und der Körper nicht nachkommt, neue zu produzieren. Hoffentlich nicht! Eigentlich sollte Castrojeriz heute meine Endstation sein, aber mir ist es völlig unmöglich, hier jetzt aufzuhören. Das geht gar nicht, ich platze immer noch vor Energie! Am Ortseingang treffe ich Jos, er will auf dem Campingplatz Station machen, sich in die Sonne hauen und gepflegt ein paar Bier trinken. Das werde ich sicher auch machen, wenn ich heute meine Etappe beendet habe, wo auch immer das sein wird. In der Mittagshitze (es ist erst 13:30 Uhr) ist Castrojeriz wie ausgestorben, nur in einer der Pilgerherbergen regt sich etwas Leben. Ich durchquere den Ort ohne weitere Pause. Direkt hinter der Stadt führt der Weg auf eine Art Tafelberg, den Alto de Mostelares, nur gut 100 Meter Höhenunterschied, aber in Form eines recht steilen Anstiegs. Es ist ein Kinderspiel, wie aufgezogen fliege ich die Serpentinen förmlich hinauf. Selbst meine Atmung beschleunigt sich kaum, fast ausgeruht komme ich auf dem Gipfel an. Es wird mir langsam unheimlich, wie gut ich heute drauf bin. Beinahe scheint es, als ob Körper und Geist um die bessere Verfassung wetteifern, der helle Wahnsinn! Der Blick zurück auf Castrojeriz ist ebenso traumhaft wie der auf die vor mir liegende Hochebene unterhalb des Tafelberges.
     
    Völlig überraschend spricht mich von der Seite ein alter Bekannter an. Torsten genießt gerade seine Rast - und er ist nicht allein! Er hat eine wunderschöne Begleiterin an seiner Seite. Eileen heißt sie, ist jung, schlank, dunkelhaarig und trägt ein blaues Shirt mit der Aufschrift ‚Italia’. Eine Italienerin? Nein, aber sie lebt dort. Ihr Vater ist Schwede, ihre Mutter Philippinin, von beiden Seiten hat man ihr nur das Beste