Abenteuer mit Archimedes, Pythagoras & Co.
dem wir uns alle orientieren können. Wenn der Busfahrer nach seiner inneren Zeit fährt, werde ich nie pünktlich an der Haltestelle stehen. Wir brauchen einen Rahmen, in dem wir uns wiederfinden und über den wir mit unseren Mitmenschen kommunizieren können. Stell dir mal vor, wir hätten keine Worte für Minuten, Stunden, Jahre. Stell dir vor, wir lebten nur im Hier und Jetzt. Wie wäre das?«
»Kein Zeitdruck mehr«, sinnierte ich und lächelte. »Wir könnten keine Verabredungen mehr treffen, zumindest keine genauen. Morgen Vormittag könnte man vielleicht sagen ... nein, morgen gibt es ja nicht. Friedhöfe hätten keinen Sinn mehr. Erinnert man sich überhaupt an die Toten, wenn man nur im Jetzt lebt? Allerdings braucht man auch keine Angst mehr vor der Zukunft zu haben. Die gibt es ja nicht. Der Vergangenheit trauert man nicht nach.« Ich schwieg eine Weile. Schließlich sagte ich: »Stillstand. Kompletter Stillstand. Keine Sorgen, aber auch keine Vorfreude. Keine Geburtstage. Das ist alles total unrealistisch!«, stellte ich fest.
»Nicht nur unrealistisch, sondern auch gefährlich. Wer bist du, Simon?«
»Wie meinst du das? Ich bin natürlich Simon, wie du selber gerade festgestellt hast.«
»Dein Selbstbild setzt sich aus deinen Erinnerungen zusammen. Die letzten Sommerferien am Meer, wie du dich da gefühlt hast, die erste Eins in Geschichte ...«
»... und die erste Fünf in Physik«, schloss ich.
»Deine Erinnerungen verankerst du in deinem eigenen inneren Kalender. Ohne diesen Kalender würde dir alles durcheinandergeraten, dein siebter Geburtstag würde vielleicht vor dem sechsten stattfinden, du erhieltest Zeugnisse, bevor du eingeschult wurdest. Wenn du dein Zeitgefühl verlierst, verlierst du deine Identität.«
»Wie soll ich die denn verlieren? Die ist doch nur ein Gefühl.«
»Ein Gefühl, das wie jedes andere auch in deinem Gehirn verarbeitet wird. Bei manchen Kopfverletzungen kann das Gehirn so beschädigt werden, dass dein Zeitgefühl verschwindet, und schon hast du keinen inneren Kalender mehr.«
»Gruselig.« Ein paar Atemzüge vergingen, in denen keiner von uns sprach.
Ich gähnte.
»Genug der Philosophie«, sagte Opa. »Schlaf gut, mein Ritter. Mit etwas Glück werden die nächsten acht bis zehn Stunden schnell wie ein Herzschlag vergehen.«
Mir wurden die Lider schwer und ich versank in traumreichen Schlummer.
Einen Herzschlag später wachte ich auf und hörte die Kaffeemaschine in der Küche mahlen. Anscheinend hatte Opa den Wasserhahn repariert.
Ausgeschlafen und abenteuerlustig traf ich am nächsten Vormittag die Wollebachritter an der Platane in ihren Wämsen. Tanja hatte dünne Kerzen mitgebracht, Olli einen Trichter und Sand, und ich trug Murmeln in einer Tüte und eine Rampe. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel, und unsere Sonnenuhr arbeitete verlässlich. Tanjas Methode funktionierte gut. Die erste Kerze brannte gleichmäßig nieder. Wir maßen, wie viel in einer Viertelstunde verbrannte, und markierten die anderen Kerzen entsprechend.
Olli baute mit dem Trichter und einer Flasche eine Sanduhr. Er hatte dazu aus der Zoohandlung Badesand für Nagetiere mitgebracht. Der sei das Feinste überhaupt, erklärte er uns. Fünf Mal musste er den Sand aus einer Flasche zurück in den Trichter gießen, bis die Viertelstunde voll war. Tanja berechnete, wie viel Sand wir brauchten, um fünf Minuten zu messen, und Olli verschwand gleich in die Zoohandlung, um noch etwas mehr zu besorgen.
Meine Methode bestand darin, eine Viertelstunde lang Murmeln von einer Rampe rollen zu lassen und das Ergebnis durch drei zu teilen. Leider stellte sich das Verfahren als ungenau heraus. »Für die Murmelrampe braucht man zu viel Hilfe von einem Menschen«, bemerkte ich enttäuscht.
Ollis Sanduhr gewann. Sie ging relativ genau, genau genug, hofften wir.
Ich hob das Zepter, das ich hinter dem Tor in der Stadtmauer gefunden hatte, und rief: »Auf geht’s!«
Als wir uns auf den Weg machten, trat die Silberfee in ihrem sternenbestickten Kleid aus dem Haus auf uns zu und reichte mir einen Bernstein an einer Silberkette. »Der wird euch Glück bringen«, erklärte sie und berührte jeden von uns mit ihrem Zeigefinger mitten auf der Stirn.
Tanja runzelte die Stirn und sah uns ratlos an, Olli nahm es hin und ich bedankte mich artig für ihren Segen.
Bevor wir den Waldrand erreichten, hörten wir Tuten, Klingeln und Knattern. Ein halbes Dutzend Kinder in Westerburgwämsen erwartete uns und
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