Aber bitte mit Sake
Moment, bis ich begreife, dass ich vergessen habe, ordnungsgemäß die Schuhe auszuziehen. Eine der Anwesenden greift nach meinen Holzpantoffeln und trägt sie vorsichtig in den Vorraum, um sie dort in einem der zahlreichen mit Nummern versehenen Bastkörben zu verstauen. Sie bedeutet mir, meine Kleidung auszuziehen und auf die Schuhe zu legen. Folgsam tue ich wie geheißen, wickele mich in ein Handtuch und nähere mich den Duschen.
»Ahhh«, tönt es hinter mir. Ich scheine immer noch etwas falsch zu machen und finde wenig später auch heraus, was: Es entspricht nicht den Regeln, sich mit einem der größeren Handtücher zu bedecken, wenn man in einem Onsen baden möchte. Man muss völlig nackt sein. Erlaubt ist nur, sich ein Händehandtuch vor den Körper zu halten, das mehr schlecht als recht das Notwendigste bedeckt. Schnell dusche ich, ignoriere das Höckerchen, das auf den Fliesen steht, obwohl um mich herum alle darauf Platz nehmen, dann halte ich mir das Handtuchfetzchen vor die Brust und steige in das Wasser, das mich warm und angenehm umschließt. Aber was mache ich jetzt mit meinem Handtuch? Ich schaue mich um. Die Frauen, die in meiner Nähe sitzen, haben es sorgfältig gefaltet und auf ihrem Kopf platziert. Um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, mache ich es ihnen nach.
Es ist schon merkwürdig, dass die Japaner, obwohl sie so zurückhaltend sind, kein Problem mit Nacktheit zu haben scheinen. Mittlerweile dämmert es, aber ich warte so lange, bis es dunkel ist und ich mich im Wasser fast völlig aufgelöst habe; dann hülle ich mich in meinen Yukata und kehre in mein Zimmer zurück. An einem Halter an der Wand im Flur hängen Schuhe, die ich geflissentlich ignoriere.
An diesem Abend bleibt mir angenehmerweise der Versuch erspart, auf Englisch mein Abendessen zu bestellen, denn ein mehrgängiges, festgelegtes Menü ist im Zimmerpreis inbegriffen. Schnell wechsele ich den Yukata und laufe durch ruhige Gänge hinunter in den Speisesaal, wo ich mich an einen Ecktisch setzte. Ich versuche, mich möglichst genauso zu verhalten wie die Gäste an den umliegenden Tischen, versuche die Art zu imitieren, in der sie mit Stäbchen essen und denke sogar daran, meine Hände vor dem Essen mit den feuchten Tüchern, den Oshibori zu reinigen. Angestarrt werde ich trotzdem. Die freundliche Kellnerin stellt eine Schale mit heißem Fett und einen Teller rohes Fleisch vor mir ab. Wieder einmal weiß ich weder, was für ein Gericht mir da serviert wird, noch, wie ich es essen soll, und es dauert eine halbe Stunde, bis ich verstanden habe, dass man das rohe Fleisch mit Stäbchen kurz durch die zwei verschiedenen siedenden Brühen zieht. Es handelt sich um Shabu shabu, ein japanisches Feuertopf-Gericht, das vor allem im Winter serviert wird, wie mir die Kellnerin in gebrochenem Englisch erklärt.
Mich überfällt endgültig Heimweh. Wozu hat man die Bevormundung durch die Eltern ertragen, die Pickel der Pubertät und den ersten Liebeskummer, wenn man zu guter Letzt doch nicht selbstständig, sondern hilflos wie ein frisch entbundener Säugling auf das Wohlwollen von ein paar Japanern angewiesen ist? Fast verstehe ich, warum Raffaele nicht nach Deutschland ziehen will. Ihm ginge es dort ohne mich an seiner Seite wohl ähnlich.
Obwohl die dünne Futonmatratze sehr hart ist, schlafe ich in dieser Nacht tief und fest. Nach dem frühen Frühstück unternehme ich einen Ausflug in die Region. Die Landschaft mitten im Fuji-Hakone-Izu-Nationalpark ist beeindruckend. Der Ashi-See, an dessen Ufer ich einen zweistündigen Spaziergang unternehme, von Bergen und Vulkanen umringt. Es ist alte Tradition, im Schwefelwasser der heißen Quellen Eier zu kochen. Die sogenannten Onsen-Tamago , die hier durch die gelösten Sulfate und Eisenionen schwarz gefärbt werden, erhöhen angeblich die Chance auf ein langes Leben. Ich habe gelesen, dass Japan das Land mit der höchsten Lebenserwartung ist – habe ich hier ihr Geheimnis aufgedeckt? Schwarze Eier?
Nach ein paar anstrengenden Stunden Fußmarsch kehre ich müde in mein Hotel zurück und beschließe, mich noch eine Stunde hinzulegen, bevor ich zurück nach Tokio fahre. Doch als ich mein Zimmer betrete, muss ich feststellen, dass mein Bett verschwunden ist. Verwundert blicke ich mich um, dann melde ich mich an der Rezeption. Als es wenige Minuten später an der Tür klopft und ich öffne, steht eine junge Frau vor mir, die sich tief verbeugt. Ich bedeute ihr, mir zu folgen. Gerade, als ich
Weitere Kostenlose Bücher