Aber bitte mit Sake
dass die Japaner ausgesprochen loyal sind. Sie arbeiten meistens ihr Leben lang in einer Firma. Sie bleiben in ihren Geburtstädten, selbst wenn diese von Erdbeben und Tsunamis heimgesucht werden. Und früher gingen sie sogar für ihren Herrscher in den Tod.« Ich muss an Nogi Maresuke und seine Frau denken. Was Ellen sagt, klingt plausibel.
Als meine Bahn Shinjuku erreicht, verabschiede ich mich schweren Herzens von meiner besten Freundin, um mich wieder auf meine Umgebung konzentrieren zu können. Hier hält sich der Lärmpegel in Grenzen, obwohl auf einer breiten Straße, die von Neonleuchtschildern gesäumt ist, zahlreiche Autos vorbeifahren. Es schneit immer noch leicht und mittlerweile fängt es an zu dämmern. Ziellos laufe ich durch die Gegend, durchstreife verschiedene Geschäfte, erstehe dank meiner heutigen Erdbebenerfahrung ein Survival-Kit mit einer Wärmefolie, einem Wasserfilter und einem Radio mit eingebauter Lampe, das sich per Handkurbel betreiben lässt. Man weiß ja nie, was kommt. Dann lasse ich mich einfach treiben, beobachte die Passanten um mich herum und lande schließlich in einem Restaurant in der achten Etage eines Einkaufscenters. Der Raum ist warm, schlicht und modern möbliert, wirkt aber trotzdem einladend. Doch auch hier spricht man natürlich kein Englisch. Per Handzeichen leitet mich die Kellnerin zu einem freien Platz am Fenster. Als ich auf das Podest steigen will, um mich vor dem niedrigen Tisch im Schneidersitz niederzulassen, entfährt ihr ein gequälter Laut. Verwirrt drehe ich mich um, dann fällt der Groschen. Ich hätte meine Schuhe ausziehen und sorgfältig nebeneinander vor dem Podest aufstellen müssen. Schuldbewusst blicke ich sie an und beeile mich den Fauxpas wieder auszubügeln. Das Gefühl der Hilflosigkeit hält auch beim Blick in die Speisekarte weiter an, denn natürlich kann ich keines der japanischen Schriftzeichen entziffern.
»Was ist das?«, frage ich die Kellnerin in der Hoffnung, sie könne mir helfen, aber sie wirft mir nur einen verständnislosen Blick zu.
»Ich verstehe sie nicht.« Verzweifelt sehe ich sie an. Dann tippe ich auf gut Glück einfach auf eines der Gerichte in der Karte. Japanisches Roulette nennt man das wohl. Ich hoffe, ich bekomme keinen giftigen Kugelfisch.
»Aber bitte mit Sake!«, sage ich, immerhin ist es das Einzige, was ich bestellen kann. Sie nickt erfreut. Wenig später wird mir gebratenes Rindfleisch in Miso-Sauce serviert. Glück gehabt. Fasziniert beobachte ich, wie die Kellnerin nun auch den Sake vor mir abstellt und mit heißem Wasser aufgießt, bevor sie sich unter tiefen Verbeugungen zurückzieht. Man trinkt Sake also mitunter auch warm. Wieder etwas dazu gelernt.
Die Glasfront des Restaurants gibt den Blick auf moderne Hochhauskomplexe frei. Tief unter mir durchkreuzen Züge eine beleuchtete Station. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Es ist merkwürdig und aufregend zugleich, hier zu sitzen, und ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich in Tokio bin. Ganz allein und 8925 Kilometer von Berlin entfernt. 9726 Kilometer von Mailand, wo mein Freund Raffaele lebt. Es ist 21 Uhr. In Italien ist es jetzt 15 Uhr. Wo er wohl gerade ist? Die Kellnerin bringt eine Schale mit Nudeln, die offenbar zu meinem Fleisch gehört, aber wohl als zweiter Gang serviert wird. Sie sind kalt, schmecken mir nicht und ich beschließe, sie stehen zu lassen. Kalte Pasta, wenn Raffaele das sehen könnte! Während ich einen Schluck von dem heißen Sake nehme, lasse ich den Blick erneut über Tokio gleiten. Wie konnten wir uns nur so weit voneinander entfernen? Und alles nur, weil Raffaele es sich nicht vorstellen kann, in Deutschland zu arbeiten, und ich als deutsche Journalistin in Italien kaum Chancen habe, einen Job zu bekommen. Da ich mir eine Fernbeziehung auf Dauer nicht vorstellen kann, bleibt uns, um eine endgültige Trennung zu vermeiden, nur eine Auszeit. Die möglicherweise doch zum Ende unserer Beziehung führt. Ich seufze. Die Erkenntnis, dass Liebe allein manchmal nicht reicht, tut weh. Traurig leere ich meinen Sake, zahle und verlasse das Restaurant.
Januarkälte schlägt mir entgegen, die Straße leert sich ein wenig, dafür pulsiert das Leben in den umliegenden Gassen, durch die ich nun irre. Viele Restaurants haben noch geöffnet, genau wie die japanischen Spielparadiese. Nach einigen Metern bleibe ich vor einer Karaoke-Bar stehen und beobachte, wie eine Gruppe junger Japaner fröhlich und aufgeregt an mir vorbeizieht.
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