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Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)

Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)

Titel: Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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joggen. Sie lief immer dieselbe Strecke. Erst um den Ort herum, weil sie, seit sie öfter und länger lief, gelernt hatte, den Asphalt zu meiden. Dann durch die Felder bis zum Wald, den sie in einem Zickzackkurs durchquerte – immer darauf achtend, dass sie den beliebten Fahrweg nicht zu oft kreuzte. Sie lief auf Waldboden, Marie schaute dabei ständig auf ihre Füße, um nicht über eine Unebenheit oder eine Wurzel zu stolpern.
    Das Laufen half Marie. Es stabilisierte ihre Gefühle.
    Zwar war sie nervös und reizbar, solange Robert in der Nähe war. Aber sobald sie in ihre Laufsachen schlüpfte, aus der Einfahrt trabte und sich auf den Rundkurs begab, wurde sie ruhiger, und ihre sonst so unklaren Gefühle wichen einer stabilen Form von Unnahbarkeit. Nichts kam an sie heran. Ihr Innenleben, das zu Hause unter einer Art Quarantäne stand, schien sich Platz zu schaffen. Sobald Marie lief, war sie mit sich zufrieden. Mit sonst nichts, aber das war ja auch schon was.
    Sie ging zur Arbeit. Sie machte ihre Hausarbeit. Ab und zu schwatzte sie mit einer Nachbarin, wobei sie darauf achtete, dass das Gespräch nicht persönlich wurde. Marie wusste es zu schätzen, dass die Menschen in Bubach sie nicht darauf ansprachen, dass ihr Kind verschwunden und nicht wieder aufgetaucht war.
    Auch mit Robert sprach sie nicht darüber. Sie sprach eigentlich gar nicht mehr mit Robert. Oder nur das, was unvermeidbar war. Sie konnte nicht sagen, was genau sie mit ihrem Mann sprach. Es interessierte sie auch nicht. Sie hasste ihn nicht. Sie liebte ihn auch nicht mehr. Sie konnte wahrscheinlich nie mehr jemanden lieben. Seit Johann ihr so plötzlich aus dem Herzen gerissen worden war, hatte sie das Lieben verlernt. Es wäre auch ein Verrat an ihrem Sohn gewesen. Dort, wo sein Platz gewesen war, war ein schwarzes Nichts. Etwas, was diesen Platz einzunehmen versucht hätte, wäre verschlungen worden.
    Marie gönnte sich ab und zu etwas Schönes. Und sie lief. Sie lief so oft und so weit, wie ihr Körper das zuließ. Da sie noch jung war, gerade mal Mitte dreißig, würde sie das noch sehr lange machen können. Das Laufen war ihr Leben geworden. Es ersetzte ihr den Sex und vieles andere auch. Ihren Sohn konnte es ihr nicht ersetzen, aber es konnte ihr ermöglichen weiterzuleben, obwohl Johann nicht mehr bei ihr war.
    Marie hatte eine Entdeckung gemacht. Nach dem Laufen war sie für ein paar Minuten glücklich. Es war ein banales, anspruchsloses Glück. Sie war eins mit sich und ihrem strapazierten Körper. Das war alles. Mehr wollte sie nicht.
    Je länger und ausdauernder sie lief, je mehr sie sich trotz Sehnenreißen und Atemnot abverlangte, desto intensiver waren diese Momente nach dem Erreichen des Ziels.
    Deshalb steigerte Marie sich unaufhörlich. Sie hatte keinen sportlichen Ehrgeiz. Sie wollte nur einmal am Tag für ein, zwei Minuten glücklich sein. Es erschien ihr als das Höchste dessen, was sie in ihrem Leben noch erreichen konnte. Wenn sie sich diese wenigen Augenblicke des Glücks gönnte, war sie stark. Dann konnte sie wieder nach Hause gehen, konnte Robert in die Augen schauen, konnte unter die Leute, konnte sogar Gäste empfangen – meistens Kollegen von Robert aus der Berufsschule – und so tun, als wäre alles in Ordnung.
    Marie gab sich Mühe. Sie ließ sich nicht hängen. Sie versuchte, etwas aus sich zu machen. Soweit das noch möglich war.
    Die letzte Laufetappe führte am Fluss entlang, das war der schönste Teil der Strecke. Die Luft war lau, auf dem Grasboden lief es sich wie auf Watte, das dickflüssige, grüne Wasser wirkte beruhigend. Hier wurde Marie schneller. Es strengte sie nicht an; der Körper verlangte danach. Er wollte geschunden werden – umso stärker war das Hochgefühl danach.
    Was Marie gefiel: Der Fluss war einsam und schön. Er floss so erhaben zwischen den Büschen und Bäumen, nichts konnte ihm etwas anhaben. Hier war man ganz für sich. Da es weit war bis nach Bubach und erst recht bis in die Stadt, kam nie jemand her. Es gab keine asphaltierte Zufahrt. Der Fluss war ein Naturschutzgebiet.
    Marie wusste nicht einmal, ob es überhaupt erlaubt war, hier zu joggen. Aber das war ihr egal. Es kontrollierte ja niemand.
    Deshalb schreckte sie auf, als sie in der Ferne zwei Gestalten sah. Ganz am Ende der schnurgeraden Strecke. Sie waren nur schemenhaft zu erkennen. Zwei schwarze Linien, die sich langsam bewegten. Vielleicht Jäger. Im vergangenen Winter hatte Marie einmal zwei Schüsse und anschließend

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