Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
Waldboden an der Stelle ab, an der sie gestanden hatte. »Ruf an!«, stieß sie hervor. »Ruf wieder an! Los!«
Ihre Hände trafen auf etwas Hartes. Marie packte zu. Es hatte Kanten. Johanns Handy. Sie säuberte es vom Waldboden, indem sie es an ihrem Anorak rieb. Dann stand sie auf. Ihr Rücken schmerzte.
»Hallo!«, schrie sie.
Sie steckte das Handy in die Tasche zurück und legte die Hände wie ein Sprachrohr auf ihren Mund. »Hallo!«
Irgendwo schrie ein Vogel erschrocken auf. In den Baumwipfeln flatterte es.
Marie nahm ihr Rad. Sie trat den Rückweg an.
Immer wieder blieb sie stehen und schrie: »Hallo!« Es klang von Mal zu Mal erbärmlicher.
Am Waldrand stieg Marie auf das Rad. Sie fuhr über den Feldwirtschaftsweg.
Als sie aufschaute, sah sie die Gestalt. Sie hob sich vom Nachthimmel ab. Sie stand mitten auf dem Weg. Marie bremste scharf ab. Sie sprang vom Sattel, um nicht umzukippen.
Der Mann ging ein paar Schritte auf sie zu.
War es der Freund? Warum wartete er hier auf sie?
Doch dann erkannte Marie den Mann.
Es war Robert.
Sie schleuderte das Rad auf den Asphalt. Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt.
»Was tust du hier?«
»Ich bin dir gefolgt.« Er klang bitter.
»Dann hast du gerade deinen Sohn getötet!«, fuhr Marie ihren Mann an.
Sie hob das Rad wieder auf. Es hatte keinen Sinn mehr. Jetzt war der Freund weg. Von Robert verjagt.
Marie wollte aufsteigen und losfahren.
Robert stellte sich ihr in den Weg und hielt den Lenker fest: »Johann ist längst tot. Wenn da jemand ist, der dir etwas anderes erzählt, lügt er.«
»Geh weg! Lass mich!«, schrie Marie ihn an.
Und Robert schrie zurück: »Du hast alles kaputt gemacht. Mit deinem Dickkopf. Dummheit und Sturheit – das ist eine lebensgefährliche Mischung. Aber so warst du ja immer: dumm und stur.«
Marie wollte zum Schlag ausholen, aber sie verlor – mit dem Rad zwischen den Beinen – das Gleichgewicht. Robert hielt mit beiden Händen die Lenkstange fest. Sonst wäre Marie hingefallen.
Ein Wagen raste heran. Die Scheinwerfer waren so hell, dass sie die umliegenden Felder in Flutlicht tauchten. Jedes Mal, wenn sie vom Asphalt des Wirtschaftsweges abkamen und sich in der Ackererde festfraßen, jaulten die Räder auf. Steine spritzten hoch.
Das Licht blendete Marie, sie musste ihre Augen schützen.
Der Wagen kam hinter Robert mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Die Scheinwerfer wurden abgeblendet. Zwei Männer sprangen heraus. Sie stürzten auf Robert und Marie zu.
Marie erkannte sie erst, als sie sie fast berühren konnte. Es waren Fürbringer und sein Assistent Bäsch. Sie waren außer Atem – dabei waren sie doch mit ihrer schweren Limousine gekommen.
Die vier standen eine Weile wortlos beieinander.
Im Osten ging die Sonne auf. Ein Lichtschleier legte sich über die Felder. Es ging so schnell wie im Zeitraffer.
»Wir haben das Handy geortet«, erklärte Fürbringer so gelassen, als wäre das Ganze ein Spiel.
Marie riss an ihrem Fahrrad. Endlich ließ Robert die Lenkstange los. Marie schob das Rad an den Männern vorbei.
»Was haben Sie hier gemacht?«, fragte Fürbringer.
Marie stieg auf und fuhr davon.
Marie wartete. Doch der Freund rief nicht mehr an. Er hatte den Kontakt zu ihr abgebrochen – so wie man sich von jemandem trennt, der einen tief enttäuscht hat.
Irgendwann geschah gar nichts mehr.
Marie und Robert redeten nicht miteinander. Sie lebten nebeneinander her wie zwei Fremde, die sich auf die Nerven gehen, aber keinen anderen Raum zur Verfügung haben als das gemeinsame Haus. Es wurde immer düsterer um sie herum.
Sie trauerten beide um ihr Kind. Jeder tat das auf seine Weise. Es war beiden klar, dass es eine gemeinsame Trauer nicht mehr würde geben können.
Marie weigerte sich auch, mit den Polizisten zu reden. Daraufhin zogen die Beamten sich zurück.
Fürbringer glaubte wohl selbst nicht mehr daran, den Fall noch zu einem Ende bringen zu können. Er telefonierte noch ein paarmal mit Robert. Marie hörte nur das, was ihr Mann sagte. Aus den Bruchstücken der Gespräche folgerte sie, dass der Kommissar nichts mehr auf Roberts Verdacht gab, Marie habe Kontakt mit dem Täter gehabt.
Die Einsatzleitung zog nach und nach alle Kräfte aus der Gegend ab. Irgendwann wurde die Soko »Johann« offiziell aufgelöst. Marie erfuhr davon aus den Fernsehnachrichten.
Der Freund war verschwunden. Marie wusste, dass es für immer war.
2. Teil
Ein Jahr danach
1
Marie hatte sich angewöhnt, jeden Tag zu
Weitere Kostenlose Bücher