Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
würde.
Wenn es sich so verhielt, wenn der Freund nicht in der Umgebung von Bubach wohnte und sich nur ab und zu dort aufhielt – zum Spazierengehen am Fluss oder zum Aufspüren von elfjährigen Jungen –, dann gab es kein logisches System, das ihr eine Begegnung mit ihm garantieren konnte. Eigentlich war es blanker Zufall, wenn sie ihn noch mal traf – so wie die Begegnung am Fluss auch Zufall gewesen war. Aber die Spirale schien ihr die sicherste Vorgehensweise zu sein. Mit der Spirale konnte sie dem Zufall vielleicht auf die Sprünge helfen.
Mehr noch als das topografische Problem beschäftigte sie das zeitliche. Marie arbeitete von morgens halb neun bis gegen siebzehn Uhr. Dann radelte sie los. Was war, wenn der Freund einen anderen Zeitplan hatte? Wenn er nachmittags und abends arbeitete? Dann hatte auch Maries schöne Spirale keinen Sinn.
Aber es blieben ihr ja noch die Wochenenden. Da musste sie nicht arbeiten. Seit Johann nicht mehr da war, hatte sie auch keine familiären Verpflichtungen mehr. Robert zählte ja nicht. Also konnte Marie das ganze Wochenende durch die Gegend fahren. Irgendwann musste der Freund ja mal aus seinem Bau kommen. Wenn er seinen Bau denn in ihrer Gegend hatte.
Aber Marie glaubte fest daran, dass ihr der Freund wieder über den Weg laufen würde. Sie kannte seinen Wagen – ein blauer Golf. Kein schwarzer Van mit getönten Scheiben, den hatte er entweder längst abgestoßen oder nie gefahren. Und sie kannte seine Frau. Oder Freundin. Oder Geliebte. Oder Schwester. Eine Frau, deren Gesicht in Maries Hirn eingeprägt war, stärker noch als das Gesicht des Freundes, den sie nur kurz gesehen hatte.
Doch der Freund blieb verschwunden.
Tag um Tag radelte Marie durch die Gegend.
Mit jedem Tag, an dem nichts geschah, ging es ihr schlechter. Obwohl sie durch das viele Radfahren drei Kilo abnahm – für eine Frau ihrer Größe und ihres Gewichts war das viel – und eine beachtliche Kondition entwickelte, fiel ihr das Atmen wieder schwerer. Je länger es dauerte, desto schlechter bekam sie Luft. Sie fühlte sich wie eine Asthmakranke. Wie eine Asthmakranke, die Radrennen fuhr.
Nach dreieinhalb Wochen wurde Marie krank. Die Rippen taten ihr weh, sie bekam Fieber, jeder Atemzug war eine Qual. Sie legte sich ins Bett. Robert rief den Hausarzt. Der sagte, Marie habe sich eine Lungenentzündung zugezogen und müsse im Bett bleiben. Er ließ ihr Medikamente da und rief noch zweimal an. Marie bat Robert, dem Arzt zu sagen, es gehe ihr besser – obwohl das nicht stimmte.
Marie brauchte über eine Woche, bis sie wieder auf die Beine kam.
Der Arzt hatte sie drei Wochen krankgeschrieben. Sie wollte trotzdem los. Robert versuchte sie zurückzuhalten. Doch das ließ sie nicht zu. Sie sagte, sie müsse raus, die Decke falle ihr auf den Kopf.
»Nicht mit dem Rad«, sagte Robert. »Du holst dir den Tod.«
»Dann gib mir den Wagen.«
Robert biss sich auf die Unterlippe. Er fuhr in letzter Zeit mit dem Wagen zur Schule. Seit Johann weg war und jeder das wusste, mied er die S-Bahn, wo ihn die Leute, wie er sagte, auf eine unverschämte Art anstarrten. Aus Angst, Marie könnte sich, sobald er in der Schule war, wieder aufs Fahrrad setzen, erklärte er sich dennoch dazu bereit, wieder mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren und ihr den Wagen zu lassen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er das ungern tat. Er bat sie auch, vorsichtig zu fahren. Er wollte auf keinen Fall, dass dem Wagen etwas passierte. Solche Ängste hatte Robert früher nie geäußert.
Marie versprach, besonders gut aufzupassen. Warum auch nicht? Sie hatte das bekommen, was sie brauchte.
Es stellte sich jedoch heraus, dass sie noch sehr unsicher auf den Beinen war. Als sie endlich hinterm Steuer saß, kam sie sich kleiner vor als früher. Sie suchte lange nach dem Hebel, mit dem man den Fahrersitz höherstellen konnte. Danach fühlte sie sich etwas sicherer.
Sie fuhr los. Es war wie bei ihrer ersten Fahrt nach der Führerscheinprüfung.
Marie schlich durch den Ort. Die anderen Autos hupten. Sie begann zu schwitzen.
Als sie den Ortskern hinter sich gelassen hatte, ging es schon besser. Sie fuhr über Land. Das war einfach.
Doch dann wurde ihr schwindlig. Sie fuhr rechts ran – ausgerechnet an der Baumschule, an der der Freund ihr damals entwischt war. Sie musste aussteigen und tief durchatmen. Sie ging ein paar Schritte. Dann stieg sie wieder in den Wagen und fuhr weiter.
Es klappte einigermaßen. Auf Durchfahrtsstraßen
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