Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
kurz nach beiden Seiten um.
Marie versank hinter dem Lenkrad.
Dann überquerte die Frau die Straße und ging ein paar Schritte zur Bushaltestelle. Sie trug einen dünnen, hellen Mantel und hochhackige Schuhe. An ihrer Schulter hing eine große, braune Ledertasche.
Marie startete den Wagen. Sie wollte bereit sein, wenn der Bus kam. Sie würde der Frau des Freundes folgen. Doch dann überlegte Marie es sich anders und stellte den Motor wieder ab. Wo konnte die Frau schon groß hinwollen um diese Zeit? Einkaufen wahrscheinlich. Zum Friseur. Oder etwas Ähnliches.
Möglicherweise kam der Golf nach Hause, während Marie der Frau beim Shoppen zusah. Das durfte sie nicht verpassen. Der Freund war Maries Ziel, nicht seine Frau.
Der Bus kam angewackelt, hielt, senkte seine Seite ab. Die Frau stieg ein. Der Bus fuhr los. Als er Maries Standort passierte, konnte sie erkennen, dass die Frau der einzige Fahrgast war. Eine stille Gegend. Eine Schlafstadt. Für den Freund ideal. Hier schnüffelte niemand herum. Hier beobachtete man die Nachbarn nicht. Hier wollte man sich nur von der Arbeit ausruhen.
Marie trank Kaffee und aß ihr Brot. Dann las sie in dem Gedichtband. Sie schlief ein. Ein vorbeifahrendes Auto weckte sie. Sie schreckte hoch und schaute auf die Uhr. Sie hatte nur wenige Minuten geschlafen.
Marie startete den Wagen, scherte aus und fuhr an dem Haus des Freundes vorbei. Sie spähte in die Einfahrt. Nichts. Der Golf war noch nicht zurück. Am Straßenende drehte Marie und fuhr zur Verkehrsinsel zurück. Da sah sie im Rückspiegel den Bus kommen. Sie beeilte sich, ihren Platz wieder einzunehmen.
Der Bus hielt an der Haltestelle. Diesmal war er voll. Kurz vor zwei. Die Schulen waren aus. Die Schüler stürmten mit ihren Ranzen auf den Rücken aus dem Bus. Es gab sofort eine Balgerei.
Zuletzt stieg die Frau des Freundes aus. Sie war nicht allein. An ihrer Hand ging ein Kind. Ein Junge. Er schaute hinter den anderen Schülern her. Erst als die Frau mit ihm die Straße überquerte, konnte Marie das Gesicht des Jungen sehen.
Johann. An der Hand der Frau des Freundes ging Johann. Maries Sohn.
3
Marie wich nicht vom Fleck. Als es dunkel wurde, stieg sie aus, setzte sich zwischen die halbhohen Büsche der Verkehrsinsel und pinkelte. Es war ihr gleichgültig, ob sie jemand beobachtete. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten.
Sie saß kaum wieder im Wagen, da erschienen zwei Scheinwerfer am Ende der Straße. Der Wagen kam schnell näher, bremste dann aber scharf ab. Als er in die Einfahrt einbog, sah Marie, dass es ein hellblauer Golf war.
Der Freund kam nach Hause.
Im Haus gingen Lichter an. Marie glaubte zweimal, Schemen von Erwachsenen hinter den zugezogenen Gardinen zu erkennen. Von dem Jungen sah sie nichts.
Der Schock kam mit Verspätung. Die Bilder des Jungen an der Hand der Frau mussten sich erst einmal in ihrem Bewusstsein festsetzen.
Marie wurde kalt. Sie begann zu zittern. Dann wurde sie ganz ruhig. Sogar ihre Atmung verlangsamte sich. Allerdings auf eine bedrohliche Art. Es geschah gegen ihren Willen. Sie hatte Angst, irgendwann mit dem Atmen aufzuhören.
Ihre Hände umfassten das Lenkrad. Sie klammerte sich daran fest. Ihre Handrücken waren schon ganz weiß. Es tat weh. Aber sie musste verhindern, dass sie das Bewusstsein verlor.
Marie glaubte zu verdursten.
Es dauerte unvorstellbar lange, bis sie das Lenkrad losgelassen und sich so weit zum Handschuhfach hinübergebeugt hatte, dass sie es öffnen konnte. Mit einer Handbewegung fegte sie den Inhalt des Fachs auf die Fußmatte. Ganz hinten lag eine Plastikflasche. Sie enthielt einen abgestandenen Rest Mineralwasser. Marie trank gierig. Es schmeckte scheußlich – aber danach ging es ihr besser.
Marie setzte sich auf. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Was war geschehen?
Sie hatte das Haus des Freundes beobachtet. Die Frau, die mit dem Freund zusammenlebte, war mittags mit dem Bus weggefahren und am Nachmittag mit einem Kind an der Hand zurückgekommen. Das Kind war Johann gewesen.
Ihr Johann. Johann, der vor einem Jahr entführt worden war. Von dem die Polizei nicht einmal eine Spur gefunden hatte. Johann, der unter der Hand für tot erklärt worden war. Von der Polizei. Von seinem Vater. In gewisser Weise auch von ihr, seiner Mutter.
Sie musste zur Polizei gehen und sagen: »Mein Sohn ist wieder da. Er befindet sich in der Gewalt eines Mannes und einer Frau. Ich weiß, wo sie sich aufhalten.«
Dann hätte sie eine Chance, ihren Sohn zu
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