Abgebrezelt
offensichtlich keiner ist, und notiert das Mess-Ergebnis auf meiner noch relativ jungfräulichen Patientenkarte.
»So, im Moment sind es fünf Millimeter bei dem Auge mit der Ptosis, eins Komma zwei Zentimeter bei dem gesunden Auge und geschätzte eins Komma zwei Promille.«
»Ich … war mit Caro aus, gestern Abend!«
»Kann ich sonst noch was für dich tun?«
»JA. Ich brauche noch eine Krankschreibung. So kann ich unmöglich ins Büro gehen.«
»Also eigentlich … bei so einer Sache … « Ich schaue ihn mordlüstern an. »Okay, okay, schon gut. Aber nur bis Dienstag. Ich mach mich sonst strafbar.«
»Spießer!«
»Nenn mich bitte nicht wieder Spießer!«
»Dann schreib mir ’ne Krankmeldung. Nur Spießer schreiben keine!«
Mister Oberkorrekt atmet tief durch und zieht einen gelben Zettel aus seiner Schublade und füllt ihn widerwillig aus.
»Bis Freitag, Roland!«
»Jessica … «
»Spießer!«
Er nimmt einen neuen Zettel und füllt ihn noch mal aus. »Bis Mittwoch, aber länger kann ich wirklich nicht –«
Ich reiße ihm den Zettel aus der Hand, setze meine Sonnenbrille auf und gehe aus dem Zimmer, ohne mich noch mal umzudrehen. Auch Miss glatte Stirn ignoriere ich, renne die Treppe runter, krame mein Handy aus der Handtasche und rufe mir ein Taxi, das wenige Minuten später um die Ecke biegt. Als ich in den Wagen steige, starrt der Fahrer mich unverhohlen an. Ich erschrecke mich, weil ich fürchte, dass ich vergessen habe, die Sonnenbrille aufzusetzen, aber die sitzt da, wo sie sitzen soll.
»Was ist?«, frage ich den immer noch glotzenden Taxifahrer »Noch nie ’ne Frau mit Sonnenbrille gesehen?«
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Wieso fragen Sie?«
»Na, Ihre Lippe. Hat Sie da … was reingestochen?«
»Ja, mein Ex!«
Ich taste meine Unterlippe ab und merke, dass tatsächlich irgendwas nicht stimmt damit. Hektisch ziehe ich meinen Handspiegel aus der Tasche und falle fast in Ohnmacht. Leider aber nur fast. Noch lieber wäre ich tot. Ich kann es nicht fassen. Meine Unterlippe ist etwa auf die dreifache Größe angeschwollen und sieht aus, als ob sie jeden Moment platzen könnte.
»O mein Gott!« Mit diesen Worten steige ich wieder aus dem Taxi und schwanke ganz langsam zurück in die Praxis.
»Nesselsucht, beziehungsweise Quincke-Ödem«, lautet Rolands nüchterne Diagnose. So was kann eben vorkommen, daran erkrankt jeder vierte Deutsche mindestens einmal im Leben, und viele reagieren damit auf bestimmte Medikamente.
»Und das auf meiner Wange?«
Ich deute auf zwei rote Flecken in meinem Gesicht.
»Das sind Quaddeln.«
Ich starre Roland an. Da ich unter Schock stehe, bin ich noch nicht mal in der Lage, Roland anzuschreien.
»Es ist wichtig, dass du dich jetzt schonst. Stress und Depressionen können das Krankheitsbild noch verstärken.«
Traurig schaue ich in den Spiegel. Matschauge, Schwulstlippe, Quaddeln: ich sehe aus, als wäre ich gestorben und danach zwei Jahre tot in einem verseuchten See rumgelegen.
»Was soll sich denn bitte daran noch verstärken?«
»Es könnte sich schon noch verändern. Bei manchen dauert so ein Schub einen Tag, bei anderen eine Woche. Er kann allerdings auch mehrere Wochen andauern.«
Irgendwie komme ich mir vor, als würde ich seit mehreren Wochen in der Warteschleife des Ahnungslosen e.V. hängen, in der ständig der gleiche Satz wiederholt wird: »Bitte drehen Sie nicht durch, aber ich weiß es nicht … bitte drehen Sie nicht durch, aber ich weiß es nicht … bitte drehen Sie nicht durch, aber ich weiß es nicht … ich weiß es nicht … «
»Aber dafür kann ich dich jetzt bis Ende der nächsten Woche krank schreiben.«
Er zückt wieder seinen gelben Block und kritzelt was drauf.
»Danke«, sage ich leise. Ich bin einfach nicht mehr in der Lage zu reagieren. Ich nehme den gelben Zettel und wende mich an Miss Dermatologie, die hinter ihrem runden Tresen steht und mich mit offenem Mund anstarrt. »Können Sie mir ein Taxi rufen?« Sie greift sofort hektisch zum Hörer. Während ich auf das Taxi warte, wird mir eines klar: In diesem Leben sieht mich die katholische Kirche nie wieder.
ZWÖLF Dr.House
»O mein Gott, was ist denn mit Ihnen passiert?« Das ist jetzt schon der dritte Taxifahrer, der mich innerhalb von zwei Tagen vollkommen entsetzt anstarrt. »Hatten Sie einen Unfall?«
Ich bin so zittrig, dass mir die Salbe, die mir Roland noch in die Hand gedrückt hat, auf den Boden fällt. Als ich sie aus dem Fußraum fingern will,
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