Abgehauen
einen alten, schwammigen Kasten, genügt, um das Vergnügen am Haus zu dämpfen. Kein Spielplatz in der Umgebung war so von Kindern bevölkert wie unser Garten, warum? Warum war keine Kneipe so gut besucht wie unser Haus? Weil wir immer ein schlechtes Gewissen hatten, wir hatten zuviel Haus, zuviel Garten, zuviel Geld. Hätte ich es doch versoffen. Ein paar Stubenlagen im Wartesaal des Ostbahnhofs, hier und da mit einem 50-Mark-Schein eine Zigarette angezündet, wie Norbert Christian, Gott hab ihn selig, so im Dauertran wie der wunderbare Rolf Ludwig, oder so kaputtgesoffen wie der große Raimund Scheicher und viele andere. Die hatten eine Dreizimmerwohnung, und gut war’s. Ich hab immer gebaut, ausgebessert, restauriert, wie ein deutscher Kleingärtner, der nichts umkommen läßt. Kein Stück Draht flog bei mir in den Müll, ich brauchte jede Schraube, denn ich war mein eigener Hausmeister und Gärtner und Klempner und Maurer. Vielleicht ist es gut, wenn alles dort stehen und liegen bleibt, dann kann ich von vorn anfangen und mir überlegen, wie weit ich es diesmal treiben will. So weit jedenfalls nie wieder. Aber ist all mein Sammeln, das Antiquitätensuchen, meine Werkstatt, die Wochenenden mit den alten Autos, von denen noch kein einziges gefahren ist, sind die Tausende von Stunden, ist dieser Aktionismus über meine Berufsarbeit hinaus wirklich nur die Lust am Raffen gewesen? Nie und nimmer. Es waren Vorbereitungen für die große Robinsonade: die Tore zu, die DDR draußen, ich und meine ausgesuchten Freunde drinnen. Ich wollte einmal im Leben einen anderen Teil der Welt sehen, einen anderen Kontinent, dafür hätte ich Zeit und Geld lieber ausgegeben. Auslandskonzerte selbst organisieren und anbieten, unsere Schallplatten noch einmal in anderen Sprachen besingen, in russisch, ungarisch, warum nicht? Die dortigen Sänger traten ja auch bei uns auf und sangen deutsch. Es ist mir nie gelungen, für dieses simple Projekt einen der größeren Funktionärsärsche aus dem Sessel zu lüpfen. Die Leute kleben auf ihren Stühlen, faul, frech, machtbesoffen, kriegen ihr Geld und bilden mit all den anderen Faulenzern und Schwätzern jene filzige Schicht, die sich zynisch Arbeiterklasse nennt, zusammengehalten durch die Solidarität der Mittelmäßigkeit, durch setzt von Stasi und Parteifunktionären. Und die wirkliche Arbeiterklasse bezahlt den ganzen Schmarotz, die Arbeiter, die wirklich acht Stunden arbeiten. Gäbe es bei uns die gleiche Arbeitsproduktivität wie in kapitalistischen Industrieländern, wir hätten zwei Millionen Arbeitslose, eine Million haben wir sowieso, das sind die Leute, die irgendeinen nutzlosen Job abdrücken, die Redakteure der Betriebszeitungen, die Gewerkschaftstypen, die Parteitypen, die Stasitypen, die Dispatcher, die sich jeden Tag ein paar Stunden in den Betrieben herumdrücken, Helme aufsetzen, alte Hosen abtragen und dafür sorgen, daß es am Ende des Geldes keine Ware gibt.
Jurek kommt vorbei, er kommt fast jeden Tag, fragt immer dieselbe Frage, ich sage: »Nichts tut sich.« Noch nie hat er mir aus einem seiner Manuskripte vorgelesen, heute macht er’s, ich fühle mich geehrt. Es sind Teile aus einer Geschichte, in der ein DDR-Lehrer sich aus seinem Korsett befreien will, einen anderen, neuen Unterricht machen will und damit scheitert. Jurek liest langsam, die Sprache ist schön und schwermütig, nach besonders gelungenen Wendungen hebt er kurz den Blick, um die Wirkung zu beobachten. Er liest eine Stunde, ich zeige meine Begeisterung, muß nicht besonders heucheln dabei, deshalb strengt es nicht an.
Es klingelt, der Telegrammbote steht draußen. Mein Herz. Das Telegramm lautet:
wir treffen uns zur maidemonstration am 1. mai um 10.00 uhr im marschblock 13 potsdam otto nuschkestr. in richtung hegelallee gruesse acker-thiess leiterin der besetzungsabteilung defa.
Die hat Sorgen.
Abends ruft mich Herr Gerstner an. Genosse Gerstner ist eine milde Ausgabe von Karl-Eduard von Schnitzler, wie dieser Journalist von Beruf, schon seit Jahren Verfasser einer Wirtschaftskolumne in der BERLINER ZEITUNG. Er schreibt Kommentare für den Rundfunk und macht die Fernsehsendung »Prisma«. Seit Jahren fehlt er auf keiner Diplomatenfete, er ist dabei, wenn gedinnert, gejahrestagt und eingeweiht wird, er fehlt nicht beim Kostümfest und nicht beim Maskenball. Nie hat man gehört, daß ihm Zurückhaltung nahegelegt worden wäre. Uns haben die hochgestellten Genossen wegen der
Weitere Kostenlose Bücher