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Abgehauen

Abgehauen

Titel: Abgehauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Krug
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ich. »Ihre Kollegin hat doch meine Telefonnummer.«
    »Ich hatte hier in der Gegend zu tun«, sagt sie. Das ist alles, ich stelle keine weiteren Fragen, sie ist schnell verschwunden.
    Man kann keinem Polizisten begegnen, der nicht reflexartig nach dem Ausweis fragt. Diese Frau hier hat sich nicht legitimiert, sie ist gekommen, hat Donnerstag gesagt und ist wieder gegangen. Ich soll also eine Woche vorher wissen, daß der 5. Mai der große Tag ist. Aber den können sie verschieben, wohin sie wollen, und ganz abblasen können sie ihn auch.
    Nehmen wir an, sie haben jetzt schon beschlossen, ja zu sagen. Was sollen dann Gerstner und Esche noch bei mir? Kommen sie etwa doch, um mich für den Sozialismus zu retten? Ach was, ich nehme mich wichtig. Die haben andere Sachen zu tun als sich kleinkarierte Manöver auszudenken. Andererseits wissen die doch, daß ich nicht in der Lebenslage bin, um Erstbesuche zu empfangen. Und dann: Bei uns werden ganze Stadtteile von Stasifamilien bewohnt, ganze Schulen sind von ihren armen Kindern voll, das müssen wenigstens hunderttausend Festverpflichtete und eine Million Assoziierte sein. Da werden sie wohl für jeden Zweck ein paar Leute abzweigen können. Das kann man erwarten.
    Das Telefon klingelt, der Schriftsteller Walter Kaufmann ist dran. Er ist zehn Jahre älter als ich und hat zehn Jahre vor mir in meiner Geburtsstadt Duisburg in derselben Straße gespielt, in der Schweizerstraße und auf dem Kaiserberg. Die Kaufmanns waren eine jüdische Familie, Walter konnte sich durch eine abenteuerliche Flucht nach Australien retten. Er spricht noch heute den niederrheinischen Anklang, heimatliche Laute aus dem Mund eines Australiers. Aber er schreibt in englischer Sprache. Er war Matrose, Anstreicher, Landstreicher, nur Goldwäscher war er nicht. Solche Leute werden oft Schriftsteller, weil sie hoffen, die Abenteuer ihres Lebens würden für viele dicke Bände reichen. Noch heute muß Walter herumfahren und Geschichten sammeln. Er kann nur Geschichten schreiben, die er irgendwo gesammelt hat. Außer daß er ein bißchen sparsam ist, ist er ein prima Kerl. Er besitzt einen australischen Paß, etwas Kostbareres kann man nicht besitzen, wenn man in der DDR lebt. Meine Psychose ist so weit gediehen, daß ich mich selbst bei ihm nicht wundern würde, wenn er ein Stasi-Mann wäre. Gott oder weiß der Teufel wer verzeihe mir. In welchem schrecklichen Land lebe ich. Verzeih mir, Walter, wenn ich dir Unrecht tue, aber ich bin soweit, daß ich mit dem Feldstecher die Fenster der Nachbarhäuser nach Beobachtern absuche. Er sagt am Telefon, er habe nie was auf Gerüchte gegeben, aber in letzter Zeit und so weiter …
    »Es ist kein Gerücht«, sage ich.
    »Ich würde gern mal mit dir sprechen«, sagt er. Wir verabreden uns gleich für heute, er ist dran von vier bis sieben, dann wird er von Gerstner abgelöst. Vielleicht kann ich ihn als Partner in der Generalprobe für die kommenden Gespräche mißbrauchen.
    In meinem Tonbandgerät klappert etwas, ich brauche, um es aufzuschrauben, einen dieser neumodischen Kreuzschraubenzieher. Zwei Stunden fahre ich mit dem Auto durch die Stadt, um einen Kreuzschraubenzieher zu kaufen, auch das beste Fachgeschäft kann mir nicht helfen. Mein Freund, der Bildhauer Salow, sägt einen normalen Schraubenzieher ab und feilt mir daraus MIT DER HAND einen Kreuzschraubenzieher. Die nützlichste Kleinplastik, die er je gemacht hat.
    Wir alle haben viele Freunde, weil wir viele Freunde zum Leben brauchen. Einen fingerfertigen, einen mit Verbindungen zur Partei, einen Fleischer, einen mit Verbindungen zu einem Rohrleger, viele, viele Freunde. Die DDR ist das viel beneidete Land der Freundschaften. Tausend Kleinigkeiten, das ganze Leben funktioniert nur aus Freundschaft. Ein Klempner, der nicht dein Duzfreund ist, kommt nicht. Dann gibt es Freundschaften, die nur vom Zusammenhalt gegen andere Freundesgruppen leben, gegen Langweilerkollektive unter den Lehrern, Dozenten und Parteisekretären, gegen das Eingesperrtsein, gegen das »Professorenkollegium« am Sonntag im Fernsehen, gegen die Bande der Taxifahrer, gegen Postbeamte und Volkspolizisten, vor allem aber gegen die faulen Kellner. Es gibt kaum Möbel zu kaufen, trotzdem findest du in der DDR die gemütlichsten Wohnungen, weil es hier die ungemütlichsten Städte und Straßen gibt und die wenigsten Kneipen mit den meisten Inventurtagen und den schlampigsten Kellnern, welche die größten Reserviert-Schilder der Welt auf

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