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Abgehauen

Abgehauen

Titel: Abgehauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Krug
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ihre Tische stellen. Dafür lassen sie die Gäste auf der Straße stehen und winken sie von Zeit zu Zeit mit gekrümmtem Finger gnädig zum Verzehr eines Herrengedecks herein. Das Herrengedeck ist eine Flasche Bier, zu der man zwangsweise eine Flasche Sekt trinken muß, eine Kreation der DDR-Gastronomie, extra für die neue herrschende Klasse, um deren Vertretern nach der Schicht den ordinären Bierdurst auszutreiben. Warum ist wenigstens das bei den Tschechen, Ungarn und Polen anders? Wer nachmittags um halb drei die Schönhauser Allee runtergeht, kann in der Wisbyer Straße die längste Brötchenschlange Europas vor einem Privatbäcker stehen sehen, und der Laden macht um drei auf. In Prag gibt es nicht einen einzigen privaten Bäcker, und doch findest du dort etliche Läden, in denen es frische Brötchen und Brote gibt. Es gibt keine private Kneipe in Prag, und doch sind es dreimal mehr als in Berlin, und immer findet man einen Platz, ein Bier und ein Essen. Das kann nicht nur an der Frage hängen, ob der Handel volkseigen ist oder privat. Woran hängt es? Warum dekoriert Frau Meierova ihr Schaufenster liebevoller als Frau Meier? Warum schüttet sie abends einen Eimer Wasser über den Bürgersteig, warum bietet sie in ihrem Laden, der nicht ihrer ist, belegte Brötchen und eine Tasse Kaffee an? Warum kocht Herr Novotny in seiner Schwemme drei eßbare Suppen, während Herr Neumann eine laue Bockwurst auf den Pappteller legt? Die Meierovas und Novotnys verfolgen mit ihrer Arbeit andere Absichten, sie wollen, daß es ihren Mit-Tschechen schmeckt, sie wollen sich nicht blamieren, sie kochen, damit das Gekochte gegessen wird. Bei uns kochen sie, weil pro Schicht 300 Portionen raus müssen. Unsere Autofahrer zeigen die meisten Vögel, fahren mit ihren Kisten die meisten Rennen, drohen mit den meisten Fingern, schreiben die meisten Nummern auf. Das kommt, weil wir sonst im Alltag den Mund halten müssen. Das ist die Angst und die Ungeschicklichkeit der Partei, die doch immer neidisch auf den Freiheitszauber der kapitalistischen Welt schielt. Wir schlucken unsere Widerspruchslust herunter, kommen immer mehr unter Dampf, den wir dann, zu Hause gegen Frau und Kinder ablassen. Es heißt, vor allem die Frauen sorgen für die hohe Scheidungsquote in der DDR. Ich bezweifle die Behauptung, sie sei ein gutes Zeichen für den Emanzipationsgrad und die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau gegenüber dem Mann. Unsere hohe Scheidungsrate ist ein Zeichen für den allgegenwärtigen Staatsdruck, der zu Hause in der Familie sublimiert wird. Es wäre ebenso falsch, den hohen Schnapsverbrauch in sozialistischen Ländern auf die gute Wodkaqualität zurückzuführen.
    Wir sind vielleicht noch deutsch, Deutsche zu sein fehlt uns die Gelassenheit nach den Kriegen, die wir angezettelt haben. Geradezu befremdlich, daß es noch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands gibt und ihr Zentralor gan NEUES DEUTSCHLAND , sonst kommt das Deutsche nur noch in Adjektiven vor: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Deutsche Reichsbahn und DDR. Freudlos sehe ich auf die drei großen Buchstaben, die mich nur anlügen, nämlich daß wir eine Republik wären und zwar eine demokratische.
    Am Nachmittag kommt Walter Kaufmann. Ich muß einmal mehr Dutzende von widerlichen Parteigerüchten abwehren. Nur ein Gerücht sei wahr geworden, der Ausreiseantrag sei abgegeben.
    »Schade«, sagt er. »Na ja, deine Sache. Die DDR kann sich nicht leisten, gute Leute zu verlieren.« Eine halbe Stunde höre ich ihm schweigend zu, er spricht wie ein alter Freund, unverkrampft und echt. Ich schäme mich für meinen Verdacht. Er fragt mich die wahnsinnigsten Sachen, ob es stimmt, daß ich drei Monate durch Kanada gereist sei, daß ich ein Hotel gemietet hätte, um meine dritte zusammengeraffte Million zu feiern und ähnliches. Dann liest er unter schwerem Atmen meinen Antrag. Er sagt: »Mir stehen die Haare zu Berge.« Er ist traurig. Wir schweigen eine Zeitlang.
    Er sagt: »Kann ich was für dich tun?« »Kaum«, sage ich.
    Ich gestehe ihm, daß ich ihn für einen Stasi-Horcher gehalten habe, er ist darüber wenig erstaunt und erzählt mir von seinen jüngsten Reisen nach Israel und Belfast. Ich spinne mir die biblische Landschaft aus, phantasiere mir ein paar Belfaster Straßenzüge aus Fernseherinnerungen zusammen und frage mich, ob diese Plätze so aufregend sein können, wie ich sie mir vorstelle.
    Walter und ich haben uns drei Jahre nicht gesehen, er berichtet, was ihm

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