Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
einer Lösung. In jenen Momenten frage ich mich manchmal, was für ein Vater er sein mag, werfe diesen Gedanken aber sogleich in den Papierkorb meines Gehirns für sinnlose Fragen. Erneut betrachte ich das Bild, und jetzt, nur zwei Minuten später, scheint es noch stärker gealtert zu sein.
»Weißt du, Endru«, sagt Giuseppe, stützt die Ellbogen auf die Armlehnen und drückt sich gegen die Rückenlehne. »Sei froh, dass du alleine bist, sei nur froh. An dem Tag, an dem du Kinder bekommst, wirst du begreifen, was es heißt, hart zu arbeiten. Von wegen Karriere. Mandanten, Fristen, Sitzungen werden dir wie das Paradies vorkommen. Lerne also die Behaglichkeit dieser vier Wände hier zu schätzen.«
Giuseppe schluckt ein paar Mal, dann fügt er hinzu. »Manch ein Leben endet, wenn ein anderes beginnt.«
Eins … Zwei … Drei … Vier…
»Okay.« Giuseppe ballt eine Hand zur Faust und stützt sein Kinn darauf. »Lassen wir die Philosophie und kommen zu uns.«
Das gefällt mir nicht. Wenn Giuseppe zu uns kommt, beginnt für mich der Ärger.
»Erinnerst du dich an die Geschichte, von der ich dir neulich erzählt habe?«
»Nein, eher nicht.« Ich runzele die Stirn. »Wann?«
»Neulich.«
»Dienstag?«, frage ich zerstreut.
»Klar, Dienstag, Mittwoch … Neulich.«
»Keine Ahnung, Giuseppe, sag’s mir einfach.«
»Im Prinzip handelt es sich um diese Geschichte, die bald losgeht. Na ja, eigentlich ist sie schon losgegangen, kick-off meeting und solch zeitraubender Unfug, alles schon erledigt. Jetzt müssen wir das Spiel gewinnen.«
Giuseppe ist in Form. Fußballmetaphern benutzt er nur, wenn die Sache wirklich heiß ist, und mein Pessimismus wächst.
»Giuseppe, sag mir bitte einfach, was los ist.« Ich drücke mich gegen die Rückenlehne und presse die Beine an den Stuhl.
»Sei doch nicht so defätistisch, Endru, es geschieht dir doch nichts. Wirklich nicht. Endru. Endru«, ruft er begeistert.
»Verstehe ich das richtig, Giuseppe: Achille geht, obwohl er sein Projekt noch nicht abgeschlossen hat, und jetzt soll ich einspringen, ohne irgendetwas darüber zu wissen. Ist es so?«
»Nein, um Gottes willen, nein. Was heißt denn, ohne etwas darüber zu wissen? Ich habe dir doch neulich davon erzählt. Dienstag. Du hast mich selbst daran erinnert.«
»Ich habe einfach nur einen beliebigen Tag genannt.«
»Einfach nur, einfach nur … Präzision, Endru! Jetzt hör mir zu.«
Giuseppe reckt sich über den Schreibtisch, fegt die Acryltrophäen für seine letzten erfolgreichen Projektabschlüsse und eine Reihe ungeöffneter Briefumschläge beiseite und reicht mir eine vergleichsweise dicke lindgrüne Mappe. Auf dem Deckel steht in Achilles Kinderschrift: Dreifürzwei-Project. Schaudernd nehme ich sie entgegen.
»Eine Firmenübernahme«, sagt Giuseppe und peilt mit einer zusammengerollten Plastikmappe eine Fliege an. »Eine schlichte Firmenübernahme. Und ein Joint Venture, ein schlichtes Joint Venture. Due diligence , Verhandlung, Vertrag, Unterschrift, closing . Wir sind die Käufer. Das Übliche. Kein Grund zur Sorge also, kein Grund, den Pessimisten zu spielen. Für dich ist das Glas immer halb leer, Endru, dabei lebt man das Leben – hör auf mich! –, indem man das Glas austrinkt, egal wie viel noch drin ist.« Brutal erschlägt er die Fliege, nimmt die Plastikmappe weg und pustet fort, was von dem Insekt noch übrig ist.
Ich schaue ihn an und bleibe stumm. Der Himmel verdunkelt sich. In den nächsten Minuten werden die ersten Tropfen fallen.
»Achille hat den Kontakt hergestellt.« Giuseppe kritzelt nun wieder etwas auf den Klebezettel. »Erste Treffen, Visitenkarten, Angenehm, ebenfalls angenehm . Jetzt aber tritt der Profi auf den Plan. Jetzt wird es amüsant, Endru.«
»Was soll ich also tun?«
»Du studierst in aller Ruhe diese Papiere und wappnest dich für das Treffen mit dem Unternehmen, das wir kaufen, das Zielunternehmen, alles schon in Hinblick auf die due diligence . Ein erstes Treffen. In aller Ruhe.«
»Okay. Und wann soll dieses Treffen sein?«
»Morgen.«
Giuseppe spricht das Wort mit verblüffender Beiläufigkeit aus.
»Eher später allerdings«, fügt er hinzu und lächelt nun plötzlich fromm. »Zehn, halbelf.«
Die ersten Tropfen schlagen an die Scheibe. Ich sehe, wie sich Regenschirme öffnen, klemme die Mappe unter den Arm und stehe auf, ohne noch etwas zu sagen. Stattdessen frage ich mich, wie es möglich ist, dass dieser Mann regelmäßig, wenn ich festen Boden unter den
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