Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
Fünfunddreißig und operiert schon, Bauch, Rücken, Gesicht, alles. Nur Herz nicht, dafür gibt es Spezialisten.«
»Das Leben kann manchmal grausam sein«, wiederholte ich. Grausam .
Ich betrachtete den Alten, der jetzt einen Tropfen Kondenswasser an der Abteildecke beobachtete und etwas murmelte. Ich betrachtete meine vollkommen zerknitterte Kleidung. Ich betrachtete die Papiere, die zunehmend vor meinen Augen verschwammen. Grausam .
Auf der Höhe von Montecchio Maggiore war ich von den Berichten über finstere, weit zurückliegende Sünden vollkommen erschöpft und dachte, dass ich mich besser ausruhen sollte. Im Versuch, den Alten zum Schweigen zu bringen, machte ich die Augen zu, und nachdem ich mich etwa zwanzig Minuten lang gezwungen hatte, sie nicht mehr zu öffnen, muss ich tatsächlich eingenickt sein. Das schloss ich nicht so sehr daraus, dass ich erholt aufgewacht wäre – im Gegenteil –, sondern eher aus der Tatsache, dass ich beim Erwachen eine nicht unbedeutende Speichelspur auf meinem linken Revers entdeckte. Schnell wischte ich mir mit dem Ärmel über den Mund und sah mich verlegen um, aber ich war allein. Ab sofort verlief die Reise friedlich. Kein Alter, kein Chirurg, keine Papiere, nur ich und meine Spucke, die auf dem Jackett trocknete.
Der Bahnhof von Treviso ist ein Eisenbahnidyll. Ruhig, klein, zentral.
Ich begebe mich zu Fuß zum Hotel, einem bescheidenen Drei-Sterne-Etablissement, damit dem Mandanten nicht zu hohe Kosten entstehen. Normalerweise achte ich nicht darauf. Wenn ich auf Dienstreise gehe, verzichte ich auf jede falsche Bescheidenheit und bitte die Sekretärin, die besten Hotels in den exklusivsten Lagen zu suchen und dann das mit dem längsten Namen zu buchen. In Paris bin ich im Best Western Étoile Saint-Honoré Hotel abgestiegen. In London im Hyatt Regency London The Churchill Hotel . In Rom im Aleph A Boscolo Luxury Hotel . Hier in Treviso war mir nicht danach, zumal wir auch keine langen Namen gefunden haben.
»Campi «, sage ich. »Andrea Campi. Für mich ist ein Zimmer reserviert.«
Eine zierliche Frau um die dreißig hat mich an der Rezeption in Empfang genommen und lässt mich mit einem mehr schlecht als recht versteckten Gähnen eine gewisse Ungeduld spüren. Hinter ihr baumelt über einem Regalbrett ein ausgestopfter Adler und scheint mit seiner ganzen Haltung zum Ausdruck zu bringen, dass man sich das ja hätte denken können.
»Wir haben Sie …«, sagt sie und schaut auf die Uhr, »… vielleicht ein wenig früher erwartet.«
»Der Zug«, versuche ich mich zu verteidigen. »Die üblichen Verspätungen.«
»Haben Sie einen Ausweis?«
Ich reiche ihn ihr.
»Achten Sie nicht auf das Foto«, sage ich und stütze den Ellbogen auf den Empfangstresen. »An jenem Tag war ich gerade erst aufgestanden, und von dem Abend davor will ich gar nicht reden. Das waren noch Zeiten. Sie werden es kaum glauben, aber …«
Die Frau gibt mir den Personalausweis zurück, ohne ihn auch nur aufzuklappen, und mein Versuch, geistreich zu sein, zerschellt an dem Satz: »Frühstück von acht bis zehn.« Das waren auch schon die letzten Worte. Beim Check-out am nächsten Tag würde ich auf einen Dicken mit grau meliertem Bart treffen und nicht erheblich mehr austauschen als: »Minibar?« – »Erdnüsse.«
Ich steige in den ersten Stock hinauf, öffne die Tür und lasse mich wie tot aufs Bett fallen. Ein paar Minuten bleibe ich reglos liegen, betrachte die Ornamente an der Decke, erhebe mich dann schwerfällig und ziehe mich langsam aus. In Socken und halb aufgeknöpftem Hemd, eine Tüte geröstete Erdnüsse in der Hand, setze ich mich aufs Klo und pinkle, zu faul zum Stehen und zu hungrig zum Warten. Ich knabbere die Nüsschen und sehne mich nach Mailand zurück.
Innerhalb weniger Minuten putze ich mir die Zähne, ziehe ein T-Shirt an, schlüpfe unter die Decke und versuche zu vergessen, dass ich noch keines der Papiere gelesen habe, die ich für das Treffen morgen kennen sollte. Ich nehme die Fernbedienung, schalte den Fernseher an, tippe die Nummer 125, wähle zwischen verschiedenen Programmen, und der Film beginnt. Am Flughafen wartet ein gut gekleideter Mann mit Zeitung an Gate 13 auf den Abflug. Das Unvorhergesehene lauert hinter der Ecke: Eine Reinigungskraft nähert sich. Der Mann bittet sie in ein Kabuff. Die Frau steckt ihre Hand in seine Hose und leckt seinen Hals ab, während der Mann mit den unnatürlich unbehaarten Genitalien der Frau das Höschen auszieht. Vor
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