Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
tun.«
»Aha.«
»Das tut mir wirklich leid. Wenn Sie vorher Bescheid gesagt hätten, wäre es mir vielleicht möglich gewesen, Ihnen ein Gespräch mit einem meiner Mitarbeiter zu vermitteln. Wenn ich übrigens so direkt sein darf, was …« Er unterbricht sich und schaut mich schief an.
»Ja?«
»Was wollen Sie eigentlich hier?«
»Wie, was ich hier will?« Ich werde jetzt lauter. »Wir hatten eine Verabredung. Zehn, halb elf.«
»Aber der Termin wurde doch abgesagt. Hat Ihnen Ihr Kollege das nicht mitgeteilt? Ettore?«
»Achille.«
»Achille.«
»Davon hat er nichts verlauten lassen. Mir hat er nur gesagt, dass …«
Ich gerate ins Stocken. Plötzlich fühle ich mich sehr müde. Die Farben verblassen. Die Umrisse verschwimmen. Ich würde gerne über Blowjobs reden, über jene, denen sich Achilles Frau mittlerweile verweigert, weil sie herausgefunden hat, dass er die Hälfte seines Gehalts in Nutten steckt, selbst an Weihnachten. Und ich würde gerne sagen, dass ich ein Idiot bin, weil ich jetzt hier im Friaul stehe – oder vielmehr in Venetien – und ein Ingenieur mit blauen Hosenträgern sich fragt, ob die Empfangsdame nicht vielleicht doch Recht hatte und man die Carabinieri rufen sollte.
»Schauen Sie, Herr Ingenieur, es muss wohl ein kleines Missverständnis gegeben haben. Ich möchte wirklich nicht stören, aber wo ich nun schon einmal hier bin, wäre es Ihnen da nicht möglich, mich in Ihren data room zu führen, damit ich mir einen ersten Eindruck vom Material verschaffen und die check list abarbeiten kann. Schon in Hinblick auf die due diligence .«
Der Ingenieur schaut mich verblüfft an.
»Ich will versuchen, es besser zu erklären«, setze ich noch einmal an. »Wenn ich mich nicht irre, haben Sie einen data room , einen Raum, in dem Sie alle Papiere aufbewahren, die Ihr Unternehmen betreffen. Wäre es möglich, einen Blick hineinzuwerfen?«
»Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Sie müssen sich klarer ausdrücken, Herr Anwalt, schließlich kommen nicht alle Menschen aus Mailand. Folgen Sie mir.«
Der Ingenieur führt mich in einen Raum im ersten Stock, wo er verkündet, dass er jetzt wirklich verschwinden müsse, die Arbeit staple sich, die Zeit laufe davon, holen Sie sich aber ruhig einen Kaffee an der Kaffeemaschine, kostet nur sechzig Cent. Dann drückt er mir die Hand.
»Und lassen Sie nichts mitgehen.« Er versucht zu zwinkern, schließt aber beide Augen gleichzeitig.
In Aluminiumregalen stehen in perfekter Ordnung lange Reihen von aufsteigend nummerierten Akten: das gesamte Unternehmensarchiv – von der Gründungsurkunde bis zu den Protokollen der Verwaltungsratssitzungen, von den Bilanzen bis zu den Handels- und Finanzierungsverträgen, von den Arbeitsverträgen bis zu den Umweltzertifikaten, von den Patenten bis zu den Gerichtsakten –, alle relevanten Daten, um die wirtschaftliche und finanzielle Situation des Unternehmens analysieren zu können, Daten, die wir, die Anwälte des Käufers, brauchen. Ich setze mich, hole einen Block aus der Außentasche meines Trolleys und beginne, mir Notizen zu machen. Die Sonne scheint immer heißer auf die Berge herab. Irgendwo in der Ferne bewegt sich etwas im Gras, und ich denke an den geplatzten Termin, an Achille, an seine Frau und an Pay-per-view -Filme.
13
Der Vormittag verläuft ruhig.
In der Einsamkeit des data room habe ich mir Notizen gemacht und ein Bild von der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens gewonnen: welche Themen vertieft werden müssen, welche Risiken zu beachten sind, wie viele und wie erfahrene Mitarbeiter wir für die Prüfung brauchen, und nachdem ich eine Packung Kekse und drei Kaffee aus dem Automaten konsumiert habe, stecke ich die Dokumente wieder in die Plastikhüllen zurück, die Plastikhüllen in die Ordner, die Ordner in die Regale, ziehe meine Jacke an und gehe zum Empfang. Ich kehre nach Mailand zurück, und wenn ich mich beeile, kann ich schon am späten Nachmittag dort sein. Mein Mund verzieht sich zu einem Lächeln, dem ersten am heutigen Tag.
»Herr Anwalt.« Ingenieur Carugato steht am Ende des Flurs. »Sie wollen sich doch wohl nicht wie ein Dieb davonstehlen?«
Er lächelt mich an, als ich der Dame am Empfang den Besucherausweis zurückgebe.
Ich nicke, alles okay, kein Grund zur Klage. Wenn man bedenkt, dass ich drei Stunden Zugfahrt umsonst auf mich genommen habe, drei weitere auf mich warten, dass ich von einer Empfangsdame für verrückt erklärt wurde und fast verhaftet worden
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