Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Baum gesetzt hatte, sondern einen Hubschrauber.
Der Rettungsarzt und sein Assistent, die auf der Lichtung gelandet waren, hatten sich zuerst gefreut, ihre Patienten wohlbehalten neben dem völlig zerstörten Geländewagen vorzufinden. Als sie dann aber hörten, was Herzfeld und Ingolf von ihnen verlangten, tippten sie auf einen ernsthaften Schock, den die beiden erlitten haben mussten. Erst als Herzfeld seinen BKA -Ausweis zückte und darauf bestand, mit einem Kollegen namens Leuthner verbunden zu werden, begannen sie zu begreifen, dass die beiden Spinner es offenbar ernst meinten und
wirklich
zu einem Privatflughafen in der Nähe Cuxhavens geflogen werden wollten, wo angeblich ein Pilot mit einer Cessna auf sie wartete.
Als das Rettungsteam hörte, ein Mann läge mit einer schweren Stichverletzung im Hals im Inselkrankenhaus und müsse dringend aufs Festland transportiert werden, prüften sie die Wetterlage und entschieden, sich der Sache selbst anzunehmen.
Um keine Vorschriften zu verletzen, bestand der Arzt zunächst darauf, Ingolf und Herzfeld in die nächste Notaufnahme zu fliegen, bevor es weiter nach Helgoland ging. Doch dann stellte er verblüfft fest, dass der Jüngere der beiden Verunfallten der Sohn des Innensenators war, eines Politikers, dessen Biographie er gelesen hatte und den er seitdem verehrte. Den endgültigen Ausschlag, sie mitzunehmen, gab dann eine Plastiktüte, die Ingolf aus einem Geheimfach im Kofferraum unter dem Reserverad hervorzog und den beiden Helfern mit den Worten »Betrachten Sie es als Schlechtwetterzulage«, überreichte.
Herzfeld wollte gar nicht wissen, wie viel Bargeld der Praktikant spazieren fuhr, aber die Mienen der beiden nach einem Blick in die Tüte sprachen Bände.
Und so war es gekommen, dass das Rettungsteam nach Rücksprache mit der Leitstelle das Wetterfenster genutzt und Kurs auf Helgoland genommen hatte. Sie hatten die Insel nach zwanzig Minuten heftiger Turbulenzen erreicht, wegen derer sich Ingolf mehrfach übergeben musste. Im Moment hockte der Praktikant auf einer Pritsche in der Klinik und war zu nichts mehr zu gebrauchen.
Zwanzig Minuten.
Schneller, als Herzfeld zu träumen gewagt hatte.
Und vermutlich dennoch zu spät.
Auf dem Weg zu dem Haus an der Klippe beschränkte er sich darauf, für den Bürgermeister das Nötigste zusammenzufassen: dass seine Tochter von einer Gruppe verzweifelter Eltern entführt worden war, die sich als Justizopfer sahen und sich mit ihren Taten an den Menschen rächen wollten, die in ihren Augen ihr Elend zu verantworten hatten.
»Und die Entführer sind alle tot?«, fragte Bandrupp ungläubig, als sie vor Tövens Haus an der Steilküste hielten.
»Ja. Sie haben den Freitod gewählt, nachdem ihre Mission erfüllt war.«
Sadler, Töven, meine Tochter. Ihre Racheopfer liegen entweder in der Pathologie … oder sind auf dem besten Weg dorthin.
»Und wie sind die Mörder auf die Insel gekommen, ohne dass wir es bemerkt haben?«, fragte Bandrupp, doch Herzfeld wollte nicht noch mehr Zeit mit Erklärungen vergeuden, auch wenn die Antwort für ihn auf der Hand lag, als er bei ihrer Ankunft die Pferdebox im Carport der Richterin sah:
Geschwind mit Schwintowski.
Der vertraute Werbespruch auf der windbewegten Plane schrie ihm geradezu ins Gesicht.
Geschwind, sonst stirbt dein Kind.
Er ging jede Wette ein, dass ein Boot des Unternehmers, mit dem er seine als Umzugsgut deklarierte »Fracht« auf die Insel verschifft hatte, in einem der beiden Häfen vertäut lag.
»Hey, warten Sie auf mich«, hörte er den Bürgermeister rufen, der unter seinem Sitz eine Stabtaschenlampe hervorzog, aber da war Herzfeld bereits aus dem Wagen gesprungen und hatte die Holztür erreicht.
Sie war nicht verschlossen. Er stürmte ins Haus, die Treppe hinauf in den ersten Stock und von dort aus eine schmale Wendeltreppe nach oben in die Dachkammer.
Er schaltete das Licht an. Der Dachboden sah genauso aus, wie er es von dem Video in Erinnerung hatte: die weißen, mit einer Rauhfasertapete verkleideten Schrägen, die Luke, der umgekippte Stuhl …
und der Strick an dem Balken darüber.
Herzfeld fühlte sich, als wandele er durch einen lebendig gewordenen Alptraum. Die Aufzeichnung hatte sich materialisiert und war schreckliche Wirklichkeit geworden. So real, dass er die Stimme Schwintowskis wieder zu hören glaubte, die zu ihm sagte:
»Hannah ist ganz in meiner Nähe.«
Es gab keinen Zweifel. Er war dort angekommen, wo der Unternehmer in den Tod
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