Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Boden aufstieg.
Mit hastigen Bewegungen bog sie die Falzlaschen auseinander, öffnete den Karton und sah hinein.
Was zum Teufel …?
Kein Schlüssel. Kein Wasser. Keine Kleidung.
Wäre sie nicht so erschöpft gewesen, wäre sie zurückgewichen aus Angst vor der Schlange, die sich am Boden des Kartons schlängelte. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte sie, dass ihre auf Tod und Verletzungen programmierte Phantasie ihr einen Streich gespielt hatte. In dem Umzugskarton befand sich kein lebendiges Wesen, schon gar keine Schlange, sondern …
Ein Seil?
Nein,
korrigierte sie sich selbst, nachdem sie in den ansonsten leeren Karton gegriffen hatte und daran zog. Kein Seil.
Das ist ein Strick.
Sie zog jetzt mit beiden Händen, so lange, bis sie sein Ende in der Hand hielt. Dann fing sie an zu schreien, denn es sah genauso aus, wie sie es befürchtet hatte.
»Besser, du nutzt die Zeit, die dir noch bleibt«,
erinnerte sie sich an die letzten Worte des Mannes, dem sie seit Tagen ausgeliefert war, und sah verzweifelt nach oben, hoch zu dem Fleischerhaken, an dem die Deckenlampe hing.
Wie gemacht für den Strick in ihren Händen, dessen Ende zu einer Schlinge geformt war.
22. Kapitel
H erzfeld hatte nicht den blassesten Schimmer, wo sie gestrandet waren. Ingolf war irgendwo in Brandenburg von der Autobahn abgefahren, um eine Tankstelle zu finden, nachdem sich über viele Kilometer hinweg keine Raststelle angekündigt hatte. Jetzt standen sie an einem dieser austauschbaren Autohöfe, die überall in der Republik gleich aussahen, mit einem Tankshop, der wie eine Shoppingmall aufgebaut war, inklusive Fast-Food-Counter und Café-Ecke, in der Herzfeld sich gerade an einem doppelten Espresso festhielt, während der Praktikant auf die Toilette gegangen war. Zuvor hatte Ingolf ihn mit Fragen gelöchert, an was für einem ungewöhnlichen Fall er denn gerade arbeite, der diese merkwürdigen Gespräche und die Fahrt Richtung Helgoland erfordere, noch dazu an einem Tag, an dem der Professor sich krankgemeldet habe. Herzfeld hatte ihn mit einem Verweis auf seine ärztliche Schweigepflicht vertröstet, wusste aber, dass er ihn früher oder später einweihen musste, wenn diese Irrfahrt wirklich andauern sollte. Doch alles zu seiner Zeit. Erst einmal musste er wieder Kontakt zu Linda aufnehmen.
»Was war denn da los bei Ihnen?«, fragte er, bemüht, nicht zu laut ins Telefon zu sprechen. Herzfeld hatte extra einen Platz etwas abseits gewählt, aber kaum hatte er Linda endlich erreicht, setzte sich ein Pärchen an den Nachbartisch, nur eine Plastikpalme von ihm getrennt.
»Wieso haben Sie aufgelegt?«
»Ich dachte, wir duzen uns.«
Herzfeld lächelte. »Okay, gerne. War das etwa ein Schrei, bevor du aufgelegt hast?«
»Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte Danny gesehen.«
»Danny?«
»Mein Ex-Freund, er … ach … vergiss es.«
»Moment mal, dein Freund ist bei dir?«
»Nein. Hör mal, ich bin nervlich überdreht, ja. Mein Ex hat sich im letzten Jahr als Stalker entpuppt, und ich bin auf die Insel geflohen, um Abstand von dem Schrecken zu gewinnen, was mir ehrlich gesagt nicht ganz so gut gelingt, wenn ich in meiner Freizeit Leichen aufschneiden soll. Kein Wunder also, dass ich hier unten Gespenster sehe. Als der Fahrstuhl aufging, huschte hinter mir im Spiegel ein Schatten vorbei. War aber bestimmt nur meine Einbildung. Wie gesagt, meine Nerven sind im Moment nicht die allerbesten.«
»Dann ist ja gut. Ich hab mir Sorgen gemacht. Wo bist du jetzt?«
»Wieder im Sektionssaal.«
Herzfeld atmete erleichtert aus.
»Ich hatte Angst und wollte mir ein Messer holen«, schob Linda sogleich hinterher, um Missverständnissen vorzubeugen. »Um mich zu verteidigen. Nicht um Erik aufzuschneiden.«
Über vierhundert Kilometer Luftlinie von Herzfeld entfernt betrachtete Linda ihr Spiegelbild in der Klinge des Seziermessers. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie die dunkel geränderte Augenpartie einer vierzigjährigen Frau zugeordnet.
»Du darfst es nicht wie einen Bleistift oder Essbesteck halten, Linda. Greif es mit der ganzen Faust, wie einen Dolch.«
»Du lässt nicht locker, was?«
»Du kennst meine Gründe.«
Sie seufzte. Mittlerweile war ihr der Anblick der Leiche beinahe schon vertraut. Würde sie jetzt an ihren Schreibtisch gehen, könnte sie den übergewichtigen Mann mit den Storchenbeinen in allen Einzelheiten aus dem Gedächtnis heraus zeichnen. Irgendwie half ihr der Gedanke, sich den Toten als
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