Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
damit sie jede Sekunde in Angst vor seiner Rückkehr lebte. Er hatte ihre Lederfesseln gegen schreckliche Bilder in ihrem Kopf eingetauscht: von verstümmelten Frauen, blutenden Genitalien und rostigen Beschneidungswerkzeugen.
Wie lange war das her? Wie lange habe ich auf der Metallpritsche gelegen und versucht, gegen meinen Schmerz zu atmen? So wie es mir Papa beigebracht hat – früher, als wir zusammen joggen waren und ich Seitenstiche bekam.
Stunden? Tage? Ihr Peiniger zögerte die Zeit hinaus, in Vorfreude darauf, was er ihr als Nächstes antun würde.
»Ganz gleich, was ich mache … Du wirst es nicht überleben.«
Die erste Zeit, die er fort war, hatte sie sich kaum bewegt. Jedenfalls nicht willentlich, denn ihre Beine zitterten ununterbrochen, ebenso wie ihre Bauchdecke. Sie wagte es nicht, sich zwischen den Beinen zu berühren. Schon der Gedanke daran ließ die Schmerzen wieder aufflammen. Außerdem geilte der Wahnsinnige sich garantiert daran auf, wenn sie aufstehen und zu dem Waschbecken an der Wand gehen würde, um wenigstens das Blut von den Schenkeln zu reiben.
Fließt es eigentlich noch immer? Oder bilde ich mir das nur ein, weil ich ständig Blut im Mund schmecke?
Sie war sich sicher gewesen, nicht einmal die drei Schritte von der Pritsche bis zum Waschbecken zu überstehen. Am Ende würde die ewig blinkende Videokamera da oben nur ihren Sturz im Bunker festhalten.
Bunker,
so nannte sie ihr Verlies wegen der dunkelgrauen, nackten Betonwände; grell erleuchtet von einer einzigen Glühbirne, die in ihrer Fassung am Kabel lose über einem Fleischerhaken von der Decke hing.
Einmal schon, kurz nachdem er weg war, hatte sie es gewagt, den Kopf zu heben, aber ihr war sofort schwarz vor Augen geworden. Jetzt versuchte sie es erneut.
Die Übelkeit, die sich bereits beim ersten Versuch eingestellt hatte, setzte wieder ein, doch jetzt war es besser auszuhalten, was darauf hindeuten mochte, dass einige Zeit vergangen war.
Zu viel Zeit?
Sie biss die Zähne zusammen, musste aber trotzdem aufschreien, als sie endlich auf beiden Füßen stand.
Ihre Beine waren nicht mehr vorhanden, zumindest fühlte es sich so an. Sie waren taub. Um nicht sofort wieder umzuknicken, ging sie in die Knie und kroch wie ein Baby auf allen vieren. Der Fußboden roch nach Staub und Ausscheidungen, vermutlich nach ihren eigenen, und sie wimmerte bei jeder Krabbelbewegung, mit der sie sich frische Druckstellen an den Knien zufügte.
Bitte, lieber Gott, lass ihn nicht ausgerechnet jetzt zurückkommen,
betete sie in Gedanken. Die Vorstellung, er könne sie wie ein Hund am Boden kriechen sehen und sich daran aufgeilen, trieb sie zur Eile.
Aber wohin?
Sie wollte sich im Bunker umsehen, verlor darüber das Gleichgewicht und schrie auf, als sie auf die Seite mit den gebrochenen Rippen fiel. Komischerweise konnte sie sich an fast alle Einzelheiten der Vergewaltigungen erinnern, nicht aber, wie sie zu den Verletzungen im Brustkorb gekommen war, weshalb sie vermutete, dass sie bei der Entführung entstanden sein mussten.
Verdammt …
Als der stechende Schmerz etwas nachließ und sie sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, erkannte sie, dass sie in die falsche Richtung gekrochen war.
Bislang hatte sie es zum Ausgang hingezogen, auch wenn sie gehört hatte, wie ihr Peiniger die Brandschutztür mehrfach verriegelt hatte.
Jetzt, wo sie wieder zu ihrer Pritsche
(meinem Totenbett)
zurückblickte, sah sie erstmals den Karton. Er stand direkt unter dem Kopfende.
Was mag da drin sein?
Hoffnung flammte in ihr auf, und auch dieses Gefühl schmerzte, wenn auch nicht so sehr wie der Weg zurück über den Beton.
Denn Hoffnung ist nichts anderes als eine Scherbe im Fuß,
hatte sie irgendwo einmal gelesen,
die ewig schmerzt, bis man sie endlich herauszieht.
Natürlich würde in dem Karton nicht der Schlüssel in die Freiheit liegen, das war ihr klar.
Oder doch? Immerhin hat er mir die Fesseln abgenommen.
Sie hoffte auf Kleidung, vielleicht eine Flasche Wasser und etwas zu essen.
Meine Henkersmahlzeit?
Mit der Hoffnung hatten sich auch Hunger und Durst zurückgemeldet. Alles Empfindungen, für die sie keine Verwendung gehabt hatte, als ihre Welt nur aus Schmerz bestand.
Wer denkt schon ans Essen, wenn er stirbt?
Es dauerte quälend lange Minuten, bis sie es endlich geschafft und die Pappkiste erreicht hatte, die hier schon eine ganze Weile stehen musste. Die Seitenränder waren dunkel verfärbt durch die Feuchtigkeit, die vom
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