Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Sicherheit herausgekommen, und dann hätten wir Sadlers Anwalt eine Steilvorlage für die Verteidigung gegeben.« Herzfeld senkte die Stimme. »Es ist mir doch selbst schwergefallen, mich an die Regeln zu halten. Aber hätte ich es nicht getan, wären die manipulierten Beweismittel aufgeflogen, und dann wäre Sadler eventuell sogar mit einem Freispruch davongekommen. Du weißt doch, wie das läuft.«
»Dreieinhalb Jahre.« Martinek sah ihn aus tief geröteten, tränenleeren Augen an. Seine Unterlippe zitterte. »Die alte Hexe hat ihm dreieinhalb Jahre gegeben – dafür, dass er meine Lily geschändet und in den Tod getrieben hat. Mein Ein und Alles.«
Herzfeld nickte. Er hatte es befürchtet. Wenn man in Deutschland Steuern hinterzog, wanderte man bis zur Rente in den Bau. Vergewaltigte man ein Kind, standen die Chancen nicht schlecht, dass man ungestraft oder nur mit einer Bewährungsstrafe davonkam.
Martinek schluchzte. »Sie haben das Tagebuch nicht als Beweismittel zugelassen.«
»Es tut mir so leid.«
»Die Richterin ist sogar unter dem Strafmaß der Verteidigung geblieben, weil sie dem Täter eine Chance auf Resozialisierung geben will.« Martinek wankte. Er musste sich auf der Marmorplatte des Sektionstisches abstützen. »Resozialisierung?«, brüllte er dann. »Der Abschaum darf weiterleben, während Lily die Maden aus den Augen kriechen?«
Er hatte am Ende so laut geschrien, dass seine Worte kaum noch zu verstehen gewesen waren. Doch plötzlich wurde er ruhig. So abrupt, dass Herzfeld den Nachhall seiner Stimme noch zu hören glaubte. War sein Blick bislang eher glasig gewesen, wirkte er auf einmal völlig klar. Wütend starrte er Herzfeld an: »Und du bist schuld.« Das Messer in seiner Hand hatte aufgehört zu zittern. Martinek trat einen Schritt näher.
»Sven …«
»Du sagst, du weißt nicht, wie ich mich fühle?«
»Hör mir bitte zu, Sven.«
Martinek kam noch näher auf Herzfeld zu. Auf einmal ließ er das Messer fallen. »Nein, das werde ich nicht. Jetzt wirst du mir mal zuhören, du Arschloch.«
Zu Herzfelds blankem Entsetzen packte Martinek den abgetrennten Kopf an den Haaren und hob ihn vom Seziertisch. »Du hättest besser auf deinen ersten Impuls hören sollen. Scheiß auf die Regeln! Scheiß auf das System! Indem du dich doch daran gehalten hast, hast du Lily ein zweites Mal getötet, Paul. Und dafür wirst du büßen. Mag sein, dass du heute noch nicht weißt, wie es sich anfühlt, wenn man das Wichtigste im Leben verliert. Aber ich bete ab sofort jeden Tag, dass du es irgendwann lernen wirst.«
Mit diesen Worten warf er den Kopf in Herzfelds Richtung, der viel zu verstört war, um ihm auszuweichen. Der Schädelknochen traf ihn mit voller Wucht am Brustkorb, quetschte ihm zwei Rippen und fiel mit dem Geräusch einer aufprallenden Bowlingkugel auf den Steinboden, wo er nach wenigen kurzen Umdrehungen austrudelte.
Niemand hielt Martinek auf, als er aus dem Sektionssaal stürmte. Keiner meldete den Vorfall. Dazu bestand keine Veranlassung. Sven Martinek kam nie wieder aus seinem Sonderurlaub zum BKA zurück, den er für den Prozess beantragt hatte.
Herzfeld hatte später noch mehrfach versucht, ihn telefonisch zu erreichen, war dreimal zu seiner Wohnung in Lichterfelde gefahren, doch immer hatte er vor verschlossenen Türen gestanden. Schließlich erfuhr er von der Nachbarin, dass sein Kollege in das Haus seiner Eltern zurück nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen war. Die Adresse besorgte er sich über das Grundbuchamt, doch in der kleinen Stadt namens Zarrentin hatte er ebenfalls keinen Erfolg. Das alte Herrenhaus am Schaalsee wirkte schon von weitem kalt und unbewohnt. Er sprach mit den Nachbarn, mit dem Postboten und den Angestellten des obligatorischen Supermarkts in der Ortseinfahrt – niemand hatte Martinek gesehen. Schon nach dem frühen Krebstod seiner Frau hatte der Rechtsmediziner zurückgezogen gelebt. Jetzt, nach der Ermordung seiner einzigen Tochter, schien er sich komplett abgeschottet zu haben.
Im Zuge der Suche nach seinem ehemaligen Kollegen traf sich Herzfeld auch mit dem Anwalt, der Martinek als Nebenkläger im Prozess gegen den Mörder seiner Tochter vertreten hatte. Dieser wunderte sich nicht darüber, dass sein Mandant von der Bildfläche verschwunden war. »Ich könnte sogar verstehen, wenn er die Welt, in der solche Urteile möglich sind, für immer verlassen hat.«
Der Anwalt hatte ihm eine Kopie der Prozessakte in die Hand gedrückt. Beim Lesen war
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