Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
wieder ein, in welchem Zusammenhang er den Namen Friederike Töven schon einmal gehört, vielmehr gelesen hatte. Er hatte gehofft, dass dieser Schrecken seiner Vergangenheit ihn niemals wieder einholen würde. Er hatte sich geirrt.
Herzfeld schloss die Augen und erinnerte sich an den Alptraum vor vier Jahren, dessen Nachbeben ihn in dieser Sekunde erreicht hatte, und wusste von da an, dass die Lage seiner Tochter ausweglos war.
Vier Jahre zuvor.
Berlin.
A n jenem Tag, als die Dinge schon längst außer Kontrolle geraten waren und die Welt von Dr. Sven Martinek nicht länger lebenswert war, lachte die Sonne durch die Oberlichter des Rechtsmedizinischen Instituts in der Turmstraße. Es war kurz vor acht, die Morgenbesprechung gerade vorbei, und Herzfeld hätte an jenem Tag eigentlich gar nicht in den Räumen des Außenstandorts der Charité sein sollen. Die Koffer für einen Kurztrip mit Petra waren gepackt; ein »Lass es uns noch einmal probieren«-Wochenende in Barcelona, ausnahmsweise ohne Hannah. Herzfeld hatte noch zwei Stunden bis zum Abflug, unter seinem Kittel trug er Bermudashorts und T-Shirt. Wäre es nicht ausgerechnet sein alter Freund und Mentor, Professor Biel, gewesen, der ihn um kollegiale Amtshilfe gebeten hätte, säße er jetzt bereits in dem Taxi zum Flughafen. So war Petra allein vorausgefahren (was sich später als schlechtes Omen entpuppen sollte), und Herzfeld stand vor dem Seziertisch mit der kopflosen Männerleiche.
»Wir sind wirklich ratlos, Paul«, sagte der alte Professor und rieb sich die müden Augen. Biel hatte Tränensäcke so groß wie Teebeutel. Er schlurfte in halboffenen Gesundheitsschuhen um den Tisch.
Zwei Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen, bei dem Anblick seines alten Doktorvaters und Mentors hatte Herzfeld jedoch das Gefühl, es müsse eine wesentlich längere Zeitspanne vergangen sein. Biel wirkte älter als vierundsechzig, wenn auch wesentlich lebendiger als der Körper vor ihm auf dem Tisch.
»Der Tote wurde in seinem Auto gefunden?«
»Ja. Er saß angeschnallt auf dem Fahrersitz, beide Hände am Steuer. Das Fahrzeug wurde unter einem Alleebaum in Brandenburg aufgefunden. Ohne Dellen und Kratzer.«
»Also scheidet ein Unfall aus?«
»Und dennoch …« Biel deutete auf einen zweiten Seziertisch daneben, auf dem ein abgetrennter Männerschädel lag.
Dennoch hat irgendetwas dem Fahrer den Kopf gekostet,
vollendete Herzfeld in Gedanken den Satz des erfahrenen Forensikers.
»Wir haben den Kopf auf dem Rücksitz gefunden«, sagte Biel. »Das Blutspurenmuster im Fahrzeug lässt keinen Zweifel daran, dass ihm der Kopf abgetrennt wurde, als er auf dem Fahrersitz saß. Spritzspuren an der Rückseite des Fahrersitzes und im rückwärtigen Fußraum. Feinste Tropfspuren auf dem Polster der Rückbank, passend zur Auffindesituation des Kopfes.«
Herzfeld trat an den Tisch, der im Gegensatz zu den Edelstahlquadern beim BKA eine sandfarbene Marmorplatte hatte. Hier wurde noch auf den Originalarbeitsflächen seziert, an denen bereits zu Rudolf Virchows Zeiten gearbeitet worden war.
Wie mit einer Guillotine,
dachte Herzfeld, als er die Schnittwunde begutachtete. Der Kopf war mit einem scharfen, sauberen Schnitt etwas unterhalb des Kehlkopfs abgetrennt worden.
»Was sagt die Spurensicherung?«
»Keine Fremd- DNA , keine ungewöhnlichen Stofffasern, Fuß- oder Fingerabdrücke. Der Mann, ein vierundfünfzigjähriger Familienvater, war zum Zeitpunkt seiner Enthauptung wohl alleine im Wagen.«
Herzfeld begutachtete wieder den Rumpf der Leiche, der bereits die Organe entnommen worden waren.
»Saß er vielleicht in einem Cabrio? Und das Verdeck war geöffnet?«
Biel, der gerade noch einmal einen Blick in den Polizeibericht geworfen hatte, sah auf. »Woher weißt du das?«
Statt einer Antwort nickte Herzfeld nur. Das Bild fügte sich langsam. »Wie sieht’s mit einem Abschiedsbrief aus?«
Biels Tränensäcke begannen zu zucken, wie immer, wenn er nervös wurde. »Du denkst an einen Suizid?«
Herzfeld nickte erneut. »Ich an eurer Stelle würde in der Nähe des Fundorts nach einem Baum oder einem anderen Fixpunkt suchen. Schaut nach, ob ihr daran oder in der Nähe Teile eines langen stabilen Seiles, beispielsweise aus Stahl, findet.«
Der bizarre Todesfall erinnerte ihn an einen Leichenfund in den USA . Ein Lebensmüder hatte ein dünnes Stahlseil an dem Stamm einer Eiche befestigt und sich das andere Ende mittels einer Schlinge um den Hals gelegt. Dann war er auf
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