Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
sein Motorrad gestiegen, hatte es beschleunigt und sich mit der Schlinge selbst enthauptet. Das Motorrad war nach dem Tod des Fahrers ausgetrudelt und ohne einen Kratzer mitten auf dem Feld zum Liegen gekommen. Der Kopf hatte wenige Meter dahinter gelegen.
Er wollte Biel gerade in seine Überlegungen einweihen, als die Tür des Sektionssaals aufgerissen und ein Kollege hereingestürmt kam, dessen Gesicht Herzfeld in den letzten Wochen nur noch in der Zeitung gesehen hatte.
»Sven, was ist los?«, brachte er gerade noch heraus, da musste er schon den ersten Schlag abwehren.
Dr. Sven Martinek hatte ihn nur schwach mit der Faust am Oberarm erwischt. Eigentlich hatte er auf Herzfelds Kinn gezielt, doch der hatte rechtzeitig abdrehen können. Jetzt war er auf die andere Seite des Seziertisches geflüchtet. Biel, der den Angriff zunächst fassungslos verfolgt hatte, wich ebenfalls zurück, als der Mann nach einem Sektionsmesser griff.
»Dreieinhalb Jahre«, schrie Martinek. Speichel trat ihm wie der Schaum eines Tollwütigen aus dem Mund. Er trug einen zerknitterten Anzug, ein schlecht gebundener Schlips schlackerte ihm wie ein Schal um den Hals. »Sie haben ihm dreieinhalb Jahre gegeben.«
»Es tut mir leid.«
»Es tut dir leid? Was erzählst du mir als Nächstes? Dass du weißt, wie ich mich fühle?«
Herzfeld schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Das wäre eine Lüge. Ich kann deinen Schmerz nicht einmal im Ansatz nachvollziehen.«
Wohl aber die Wut, die Ohnmacht. Und das Verlangen nach Rache. Er hatte es selbst gespürt, in der Sekunde, in der er vor einem Jahr den Anruf mit der Nachricht bekommen hatte, wer auf seinem Seziertisch lag: Lily Martinek, vierzehn Jahre alt, Verdacht auf Sexualmord. Als er sie nackt vor sich gesehen hatte, ihren geschändeten Körper wie eine Anklage vor ihm ausgebreitet, die entseelten Augen stumpf zur Decke gerichtet, hatte er sich in einem ersten Impuls gewünscht, er würde das Seziermesser nicht in Lilys Körper versenken, sondern in den des Monsters, der ihr das angetan hatte: Jan Sadler, ein mehrfach wegen Exhibitionismus und sexueller Belästigung vorbestrafter Erzieher. Bei der Festnahme hatten sie Videos gefunden, die ihn zeigten, wie er die Vierzehnjährige entführt und vergewaltigt hatte.
Aus Sadlers Tagebucheinträgen, die er nach der Tat verfasst hatte, ging eindeutig hervor, dass er Svens Tochter am Ende der Entführung hatte umbringen wollen. Dazu kam es nicht mehr. Lily gelang es, ihre Fesseln zu lösen. Der Sadist hatte, auch das war seinem Tagebuch zu entnehmen, Lily jeden Schritt ihres Martyriums in allen perversen Einzelheiten angekündigt, jede einzelne Qual, die ihr drohte. Davor hatte er sie entsetzlicherweise am gesamten Körper abgeleckt.
Martineks Tochter wusste, was ihr bevorstand. Und da sie keine Fluchtmöglichkeit hatte, sah sie nur einen einzigen Weg, den drohenden Qualen zu entgehen: Voller Verzweiflung erhängte sie sich mit ihren eigenen Fesseln an einem Dachbalken.
»Du hast mein Leben zerstört. Ich hatte dich so sehr angefleht, es nicht in den Bericht zu schreiben«, schrie Martinek ihn an. Das Sektionsmesser zitterte in seiner Hand.
Tatsächlich hatte er darum gebettelt, er solle den Obduktionsbericht fälschen. Als betroffener Vater war Martinek aus ebendiesem Grund von der Obduktion ausgeschlossen worden, und Herzfeld bereute noch heute, dass er die Untersuchung von Lily nicht ebenfalls wegen moralischer Befangenheit abgelehnt hatte.
Er hätte es kommen sehen müssen. Der Befund hatte eindeutig ergeben, dass Lily sich selbst getötet hatte, und Martinek bat ihn, diese Erkenntnis zu unterschlagen. Denn nur, wenn Sadler selbst die Tötungshandlung ausgeführt hatte, konnte er wegen Mordes angeklagt werden.
»Schieb es dem Schwein in die Schuhe, ich flehe dich an. Er war es. Er hat sie aufgeknüpft. Wenn bekannt wird, dass sie sich selbst umgebracht hat, kommt er mit fahrlässiger Tötung davon.«
»Ich konnte den Bericht nicht fälschen«, sagte Herzfeld und hörte selbst, wie billig das klang, auch wenn es die Wahrheit war. Vor ihm stand ein Vater, der alles verloren hatte, und er diskutierte mit ihm über Moral und Vorschriften.
»Versteh doch: Im ersten Impuls war ich auch voll blinder Wut. Hätte ich die Gelegenheit gehabt, hätte ich geholfen, das Schwein zu töten.«
»Und wieso bist du mir dann in den Rücken gefallen?«, schrie Martinek schmerzerfüllt. »Ich wollte doch nur, dass du den Bericht änderst!«
»Das wäre mit
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