Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
ebenfalls die Beherrschung.
„Undankbarer!“, schrie sie. „Statt auf die Knie zu fallen und mir die Hände zu küssen, wetzt er sein Maul und beleidigt mich! Ich |256| hab dir den Kopf gerettet, den Odda dir abschlagen würde! Wir haben nun einen mächtigen Beschützer!“
„Dank deiner Schenkelkünste!“
„Jedenfalls nicht dank deiner Heldentaten. Du hast nur noch eines zu tun: nach Verdun zu reiten und Ludwig den Vasalleneid zu leisten!“
„Darauf wird er verzichten müssen!“
„Was?“
„Ich soll einem Treue schwören, der mich mit meiner Frau hintergeht?“
„Du wirst es tun!“
„Niemals!“
„Das werden wir sehen!“
„Schamloses Weib!“
„Feiger Tropf!“
„Hure!“
„Schwächling!“
Das war der Stand der Beziehungen zwischen dem Herzogspaar Gerberga und Giselbert, als Heinrich in der Burg Chèvremont eintraf. So ging es seit Tagen. Er kam dazu, als gerade wieder ein eheliches Scharmützel in hilflosem Wutgestammel verebbte, weil die Gegner erschöpft waren. Sein Erscheinen weckte jedoch ihre Streitlust erneut und nach einer kalten, schroffen Begrüßung fielen sie gemeinsam über ihn her.
War er nicht der Auslöser der unheilvollen Ereignisse? Hatte nicht er durch seine prahlerische Verheißung, ganz Sachsen werde sich gegen Odda erheben, die Lothringer zu ihrem überstürzten Handeln ermuntert? Und war er es nicht gewesen, der bei Birten die vorderen Reihen kommandiert und in seinem blöden Ungestüm die ganze Streitmacht auf den denkbar ungünstigsten Kampfplatz geführt hatte, wo man den Feind so schlecht sah, dass dieser, obwohl unterlegen, mit einer schäbigen List zum Erfolg kam?
Als Giselbert diesen letzten Vorwurf erhob, war er mit seiner Gemahlin schon wieder uneins. Gerberga wollte nicht dulden, dass er ihren Bruder als „kleinen Haudrauf“ beschimpfte, sich selbst aber als besonnenen, erfahrenen Feldherrn rühmte, der ohne Heinrichs selbstmörderisches Gebaren einen glänzenden Sieg errungen hätte. Plötzlich stellte sie fest, dass der erschöpfte, abgerissene |257| Ankömmling ein Schlachtenheld war, würdig seiner königlichen Abkunft, todesmutig auch in der Niederlage, die nicht er, sondern sein feigherziger Bundesgenosse zu verantworten hatte. Sie war nun emsig um Heinrich bemüht, überhäufte ihn mit schwesterlichen Aufmerksamkeiten, befahl, ihm ein Bad zu bereiten und ihn in seinem hohen Rang angemessene Kleider zu stecken. Auch seine Gefährten wurden eifrigen jungen Mägden zur Betreuung überantwortet. Die Herzogin ließ noch am selben Abend zu Ehren der Gäste ein Festmahl anrichten, so üppig, als gelte es, heimgekehrte Sieger zu feiern.
Heinrich erholte sich bei dieser Behandlung schnell und an der Tafel führte er schon wieder das große Wort. Er berichtete von den Abenteuern, die er mit seiner Schar beim Rückzug durch Sachsen erlebt und den Taten, die er dabei vollbracht hatte. Wie wirkungsvoll kleinere oder größere Abweichungen von der Wahrheit sein konnten, hatte er selbst leidvoll erfahren. So machte er es wie der Thüringer Dadi. Er schwieg von der Zurückweisung durch die Burgherren, erfand aber heftige Kämpfe um die Merseburg, die sein königlicher Bruder unter großen Verlusten vergebens zurückzuerobern versucht hatte. Erst als die Vorräte ausgingen, habe er, Heinrich, die Burg aufgeben müssen, aber mit einem erfolgreichen Ausfall selbst den Belagerungsring durchbrochen. Odda, behauptete er, sei infolge der Schlacht um die Merseburg so geschwächt, dass er sich in diesem Jahr davon nicht mehr erholen werde.
Damit löste er Jubel unter den Herren des Herzogshofes und ihren Damen aus. So gute Nachrichten waren in letzter Zeit rar geworden. Gerberga feierte ihren Bruder, nun wieder das würdige Ebenbild seines Vaters, als den Helden der Schlachten von Birten und Merseburg. Giselberts ätzende Bemerkung, man wäre gut beraten, wenn man nicht wieder auf Heinrichs Prahlereien hereinfiele, tat sie als Nörgelei eines Neiders ab. Sie drückte ihrem Bruder einen Kranz mit goldenen Blättern auf den Lockenkopf, ließ Musikanten aufspielen und führte selbst mit ihm, leichtfüßig hüpfend und springend, den Reigen an.
Gegen Mitternacht, als noch immer getrunken, geschrien, gelacht und getanzt wurde, trat ein Mann der Burgwache in die Halle, bahnte sich einen Weg durch die ausgelassene Gesellschaft und näherte sich dem Herzog.
|258| Giselbert hockte mit düsterer Miene, die Ellbogen auf den Tisch, das Kinn in eine Hand gestützt,
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