Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
allein vor seinem Becher.
„Was gibt es?“, fragte er mit schwerer Zunge. „Was willst du?“
„Herr, da ist ein Bote vom Grafen Wigfried gekommen.“
„Was will der von mir?“
„Dich warnen. Ein Heer zieht heran, durch seine Grafschaft. Der Bote sagt: Ein großes, ein gewaltiges Heer.“
„Wie? Was? Ein Heer?“
„Es kommt vom Rhein, ist schon über Aachen hinaus, lagert zwölf Meilen von hier.“
„Das ist Herzog Eberhard. Er kommt mir entgegen.“
„Nein, Herr. Es ist König Otto.“
41
Die Festung auf dem kegelförmigen, fast unzugänglichen Hügel bei Lüttich, Chèvremont (Ziegenberg), galt als so gut wie uneinnehmbar. Otto verzichtete deshalb von Anfang an darauf, sein Heer zu einem Angriff in Stellung zu bringen. Er ließ es in der Ebene lagern und sandte eine Abordnung unter Führung Hadalts hinauf. Kundschafter hatten mitgeteilt, dass sich Heinrich, der Sachsen verlassen musste, hierher geflüchtet hatte. Auch dass Giselbert auf seine Stammburg zurückgekehrt war, hatte der König in Erfahrung gebracht. Hadalt war beauftragt, gleich die Höchstforderung zu überbringen: die Auslieferung dieser beiden.
Wie zu erwarten, kehrte der Kämmerer zurück, ohne etwas erreicht zu haben. Er war nicht eingelassen worden und der Burgvogt hatte ihm am Tor zugerufen, weder der Herzog noch der Prinz befänden sich zur Zeit in der Festung. Hadalt hatte dann angefragt, ob die Frau Herzogin bereit sei, zu einer Unterredung mit dem König, ihrem Bruder, in die Ebene herabzukommen. Die Antwort war eine abschlägige. Auf die Drohung, es werde nun eine Belagerung beginnen und alles Land ringsum, das zu Giselberts Herrschaft gehöre, mit Feuer und Schwert verwüstet werden, war nur erwidert worden, dass man in der Burg wohl versorgt sei und dass der König für eine solche Untat die Folgen tragen werde.
Otto bekam einen Wutanfall und befahl, unverzüglich und gründlich die Drohung wahr zu machen. Während die eine Hälfte des |259| Heeres den Belagerungsring um den Burgfelsen schloss, schwärmte die andere aus. Mit Fackeln und Schwertern drangen die sächsischen Krieger in Häuser und Hütten der Bauern ein, die die meisten Bewohner schon fluchtartig verlassen hatten. Wer geblieben war, hatte Glück, wenn er das nackte Leben rettete. Das brüllende Vieh wurde aus den Ställen und von den Weiden getrieben. Hoch lodernde Flammen fraßen sich durch Dörfer, Getreidefelder und das sommerlich trockene Holz des Waldes. Schwarze Rauchwolken hüllten die Festung Chèvremont ein und verfinsterten am hellen Tage die Landschaft.
„Die hier unten müssen leiden“, sagte Otto missgestimmt, als er von einem niedrigen Nachbarhügel die Verwüstungen besichtigte, „aber Mitleid verdienen sie nicht, denn sie gehören zu diesem Schurken. Wo soll man ihn treffen, wenn nicht an den Bauern … seinem Eigentum, seinen Ernährern?“
Die Nachricht von der erbarmungslosen, brutalen Bestrafung durch den König lief schnell in ganz Lothringen um und erregte die Gemüter. Die großen Herren, seit jeher untereinander uneins, wurden aufgeschreckt und genötigt, Partei zu ergreifen. Nicht wenige freuten sich über den Schaden, der dem unbeliebten Herzog zugefügt wurde, und beeilten sich, Otto ihre Zustimmung und ihre Königstreue zu bekunden.
Einige kamen selbst und verstärkten das Reichsheer durch eigene Leute. Unter diesen war ein Graf Immo, der große Besitzungen in der Nachbarschaft hatte und bisher als Giselberts treuester Vasall galt. Besorgt, der König könnte die Verheerungen und Brandschatzungen auch auf sein Gebiet ausdehnen, erschien er im Lager am Fuße des Burgfelsens.
Vor Otto, der sich hinter seinem Zelt im Lanzenwurf übte, verbeugte sich der feiste Herr tief und begann in einem Gemisch aus Romanisch und fränkischem Diutisk mit wortreichen Ausführungen. Diese enthielten – allerdings erst am Ende – eine überaus wichtige Mitteilung.
„Wenn Ihr wüsstet, Herr, wie ich den verfluchten Giselbert hasse! Wer etwas anderes behauptet, ist ein Lügner. Ihr tut Recht daran, ihn zu züchtigen, den Unhold. Immer wieder hat er versucht, mir zu schaden. Mein bestes Pferd ließ er mir kürzlich von der Weide stehlen! Wenn Ihr wüsstet, was er mir noch alles zugefügt hat … Doch seid sicher, dass ich mir nichts gefallen ließ. Ich habe es ihm tüchtig zurückgegeben!“
|260| „Tatsächlich?“ Otto holte mit der Lanze aus. Das Ziel seiner Wurfübungen war ein Hirschbalg, an einen recht weit entfernten Baumstamm
Weitere Kostenlose Bücher