Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
das unterlassen haben?“
„Es hätte noch Zeit gehabt. Wenn sie sich ihrer hohen Geburt zu früh bewusst sind, werden manche hochnäsig und aufsässig.“
„Er nicht. Er wird brav sein und fleißig lernen.“ Die Stiftsdame blickte zärtlich auf den Jungen, der den Hals des Pferdes streichelte und seine Haare glatt strich. „Er kennt schon das lateinische Alphabet.“
„Das ist sehr viel für einen wie ihn“, erwiderte der Pater mit einem spöttischen Lächeln. „Ich meine, für einen Sohn des Königs. Habt Ihr es ihm beigebracht? Wer seid Ihr überhaupt? Eine Wärterin des Knaben?“
„Ich bin seine Mutter.“
„Wie? Seine Mutter? So seid Ihr … Verzeihung …“
Auch der alte Daleminzier, der sich an dem Planverdeck des Wagens zu schaffen machte, blickte überrascht auf.
„Nein“, sagte die junge Frau und lächelte verlegen. „Nein, die bin ich nicht. Ich bin nicht die Königin. Sie hat auch einen Sohn, er ist etwas jünger als meiner. Dazu eine Tochter. Ihr wusstet nicht …?“
„Nein. Der ehrwürdige Bischof teilte mir nur mit, dass Wilhelm ein Sohn unseres Königs Otto und für den geistlichen Stand bestimmt sei. Ich habe mich natürlich nicht weiter erkundigt, das steht mir nicht zu. Erlaubt …“
|35| Der Pater, der etwas verwirrt war und dem die Unterredung peinlich zu sein schien, kletterte auf den Wagen und breitete umständlich eine Decke, die er dem Reisesack entnahm, über die Sitzbank.
Vom Tor her näherte sich mit Lärm und Hundegebell eine Jagdgesellschaft.
Es waren wohl an die zwanzig junge Männer, die absaßen und herbeieilenden Knechten und Mägden die erlegten Tiere zuwarfen. Der Jüngste, kaum siebzehn Jahre alt, ein schlanker, hoch aufgeschossener Lockenkopf, blauäugig, mit gewinnenden Zügen, winkte dem kleinen Wilhelm, der neugierig zu ihm lief.
Der junge Mann sprang vom Pferd und warf den toten Fuchs, der auf dem Rist des Pferdes lag, über seine Schulter.
„Prächtiger Bursche! Was meinst du, Wilhelmchen? Hast du so einen schon mal gesehen? Willst du ihn streicheln? Komm her und streichle ihn. Es ist zwar ein Sommerfell, aber trotzdem nicht schlecht. Das gibt einen warmen Pelz. Na, keine Angst, der beißt nicht mehr! Du kannst sogar deinen Kopf zwischen seine Zähne legen. Traust du dich das?“
Der Knabe blickte zweifelnd und ängstlich zu dem getöteten Tier auf, das auf die Brust des Jägers herabhing, die blutverschmierte Schnauze mit den spitzen, gefletschten Zähnen offen. Vorsichtshalber wich er zwei Schritte zurück.
„Kleiner Feigling!“, rief der junge Mann. „Dein Vater kann stolz auf dich sein. Was meint ihr?“, rief er seinen Jagdgenossen zu. „Kann König Odda, mein teurer Bruder, stolz sein auf sein hasenherziges Söhnchen?“
Ein höhnisches Grölen war die Antwort.
„Ich bin kein Feigling!“, sagte der Junge trotzig und machte wieder einen Schritt vorwärts. „Ich tu’s!“
„Wilhelm, komm her!“, rief die Stiftsdame. Sie raffte ihr weites Gewand, lief herbei und packte den Jungen am Arm. „Geh! Steig zu Pater Lucius auf den Wagen! Es geht gleich los!“
„Oh, da ist ja auch die schöne Petrissa!“, sagte der junge Mann und verbeugte sich übertrieben. „Begrüße die schöne Petrissa, mein Freund, das edelste Kleinod aus dem Land der Heveller! In den Staub vor ihr!“
Er beugte sich nochmals weit vor und ließ den Fuchskadaver von seiner Schulter in den Sand gleiten.
|36| „Eure Mutter erwartet Euch, Herr Heinrich“, sagte die Petrissa Genannte. „Sie ist sehr ungehalten, weil Ihr die Totenmesse versäumt habt.“
„Oh, das tut mir aber leid. Wir haben uns ein bisschen im Walde verirrt. Dabei wollten wir pünktlich zurück sein, das schwöre ich!“
„Es ist nicht recht von Euch“, sagte Petrissa streng, „dass Ihr Euerm Lehrer und Freund, dem Ihr so viel verdankt, nicht die letzte Ehre erwiesen habt.“
Sie wollte sich abwenden, doch der Siebzehnjährige ergriff ihre Hand und drückte sie.
„Lasst mich!“, flüsterte sie und befreite sich. „Fangt Ihr schon wieder damit an?“
„Du willst es doch auch … warum sträubst du dich?“ Er vertrat ihr den Weg.
„Ich bitte Euch … Der Pater sieht her!“
„Was ist schon ein Pater? Ein Fliegendreck.“
„Und Eure Leute …“
„Brave Kerle. Die verraten uns nicht.“
„Herr Heinrich, lasst mich … Ich werde es Eurer Mutter melden!“
„Meine Mutter liebt Jesus, mich aber noch mehr. Was ich auch treibe, ich schaffe es niemals, sie gegen mich
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