Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
Gesträuch gesäumten Pfad, den Knechte mit Fackeln notdürftig beleuchteten, zu Fuß ersteigen. Nach kurzer Erwägung, ob es der späten Ankunft wegen nicht besser wäre, am Fuße des Burghügels zu übernachten, hatte sich die Herzogin durchgesetzt, die sich lieber der Mühe des Weges unterziehen wollte, als sich noch eine weitere Nacht den Unbequemlichkeiten von Gutshäusern und klösterlichen Gästequartieren auszusetzen. Keiner der Aufsteigenden |202| sprach unterwegs, die mit Gepäck beladenen Gefolgsleute und Knechte, die lieber unten geblieben wären, schwiegen missgestimmt. Man hörte nur das Stampfen und Schurren der Schritte, ab und zu auch einen Fluch oder Aufschrei, wenn jemand fehltrat. Im Dunkel zu beiden Seiten knarrte, knackte und raschelte es, kalter Märzwind fuhr, von Zeit zu Zeit aufheulend, durch kahles Gezweig. Schwarze Schatten irgendwelchen Getiers huschten über den Weg. Wenn der Mond kurz hinter den jagenden Wolken hervor lugte, drohten im fahlen Gegenlicht die Baumriesen mit ihren mächtigen, kahlen Armen. Der neunjährige Sohn des Herzogspaars klammerte sich, halbtot vor Angst, an den starken Knecht, der ihn auf dem Rücken trug. Gerberga stützte sich auf den Arm eines jungen Gefolgsmannes. Vor ihr schritt Giselbert, grimmig einen Stock auf den Boden stoßend, auch er hatte nur widerstrebend dem Willen seiner Gemahlin nachgegeben. Bald bereute die Herzogin, auf dem Marsch zur Burg bestanden zu haben. Es ging auf Mitternacht, sie fürchtete Teufelsspuk, murmelte Schutzgebete. Zur Umkehr war es jedoch zu spät.
Erschöpft und frierend erreichten sie schließlich den Graben am Burgtor.
Giselbert selbst rief der Wache das Losungswort zu.
Krachend wurde die Brücke herabgelassen. Ketten rasselten, Riegel knirschten. Die Torflügel kreischten in den Angeln.
Öde und still lag der Burghof. Die Heimgekehrten hatten es eilig, das Herrenhaus zu erreichen. Kein Lichtschimmer war dort zu sehen, niemand hatte sie jetzt noch erwartet. Düster ragte zu ihrer Rechten der Turm, ein grauer Klotz vor dem schwarzen Gewölk.
Da flammte plötzlich Licht am Fuße des Turms auf. Von Fackelschein umgeben, trat ein Mann in die Mitte. An der Spitze seines Gefolges kam er den Ankömmlingen entgegen.
Er war sehr groß, überragte die anderen. Noch war sein Gesicht nicht zu erkennen. Der Nachtwind blähte den Mantel, zerrte an seinem langen Haar. Gerberga erschrak bei seinem Anblick, auch Giselbert blieb betroffen stehen.
War das ein Feind, der während ihrer Abwesenheit mit seinen Leuten die Burg erstürmt und in seinen Besitz gebracht hatte?
Dann schien es der Herzogin, dass dieser Mann ihr bekannt war. Die hohe Gestalt war ihr vertraut, wenngleich ihr nicht einfallen wollte, wann und wo sie sie zuletzt gesehen hatte. Es musste vor |203| Jahren gewesen sein und an einem ganz anderen Ort. Es war ein Mann, den sie kannte, liebte, aber verloren hatte. War dieser sein Geist – ein Mitternachtsspuk?
Der Mann war jetzt nahe und trat auf sie zu. Es war kein Geist, sie hörte die Schritte. Der Flammenschein einer Fackel fiel auf sein Gesicht.
Gerberga schrie auf.
„Vater!“, rief sie.
Der Herzog und ein Gefolgsmann mussten sie stützen.
Sie starrte fassungslos in das Gesicht. Es war das männlich schöne Gesicht König Heinrichs, es waren im starken Kontrast von Licht und Schatten die großen, leuchtenden Augen, die geschwungenen Brauen, die gerade Nase, die hohen Wangen, das starke Kinn. Es waren die blonden, gelockten Haare, von einem Stirnreif zusammen gehalten, doch kaum zu bändigen.
„Vater!“, flüsterte Gerberga.
„Aber das ist doch …“ rief Herzog Giselbert. „Bist du es, Heinrich? Natürlich! Das ist dein Bruder, Frau!“
„Mein Bruder?“
„Ich bin es!“, rief Heinrich mit heller Stimme.
„Gott im Himmel!“, stöhnte sie. „Gibt es das? Ist denn das wahr? Keine Täuschung? Ich sah unseren Vater auf mich zukommen!“
„Schwester!“
„Oh, mein geliebter Bruder! Mein Herzensbruder!“
Die Geschwister fielen sich in die Arme und küssten sich.
„Du kommst im richtigen Augenblick!“, sagte Giselbert, während er seinem jungen Schwager die Hand drückte. „Und als Geist deines Vaters. Ja, ja, den brauchen wir jetzt!“
So löste sich die gespenstische Szene in Heiterkeit auf.
Alle begaben sich ins Herrenhaus. Knechte und Mägde wurden geweckt, Kerzen und Kohlebecken entzündet, Schüsseln mit kaltem Fleisch aufgetragen, Becher gefüllt. Bald waren an den langen Tischen die
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