Abgründe (German Edition)
sich auf. Haley betrachtete ihn wie ein kleiner Junge, der auf die Pointe seines sorgsam vorbereiteten Streichs wartete. Er hielt die Säge in die Luft, bereit, sie herabsausen zu lassen.
»Detective!«, stieß er hervor und in seinen Worten lag blanker Hass.
»Haley.« Ethans Stimme klang brüchig, er ließ langsam die Waffe sinken. »Was... was tust du denn da?«
»Hast du Angst um sie, Detective?« Haley ließ die Säge spielerisch ein kleines Stück sinken und Ethan machte einen Satz nach vorn.
»Haley, nein! Das-« Was sollte er sagen? Das ist falsch? Das willst du gar nicht tun? Woher sollte er wissen, was Haley wollte? Ganz offensichtlich wusste er nicht einmal, wer Haley war . »Schalt jetzt verdammt noch mal die Säge ab!«
Als Ethan seine Nacht in Untersuchungshaft verbracht hatte, war ihm ernsthaft durch den Kopf gegangen, ob er sie vielleicht nicht alle hatte. Ob er vielleicht wirklich all diese abscheulichen Dinge tat und hinterher nichts mehr davon wusste. Diese Idee hatte er für absurd gehalten, aber nicht für völlig unmöglich. Er hätte es sogar für möglich gehalten, dass Gladys oder Donovan der Täter war. Er hätte seinen eigenen Vater verdächtigt, er hätte jede Einzelne der Frauen in seinem Leben verdächtigt – aber niemals seinen eigenen Sohn. Es war eines dieser Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrannten und einen nie wieder losließen: Haley, der vor ihm stand, in den Händen eine Kettensäge, vor sich die Frau, die Ethan liebte. Unendliche Sekunden lang starrten sie einander in die Augen. Dann schaltete Haley die Säge endlich ab.
»Die Knarre weg«, sagte er kalt.
Ethan sicherte die Waffe, ließ sie fallen und kickte sie fort.
»Jetzt nimmst du dir also doch noch die Zeit, mit mir zu reden.« Haley klang gekränkt und in seiner Stimme lag ein viel zu großer Schuss Wahnsinn.
Ethan schüttelte den Kopf. »Was hast du nur getan?« Er klang hohl und kraftlos.
Haley ließ die schwere Säge zu Boden fallen. Vorsichtig trat Ethan einen Schritt auf seinen Sohn zu, doch dieser ließ blitzschnell ein Messer aufschnappen, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
»Keinen Schritt näher, Detective.« Haley presste die Klinge an Evangelines blassen Hals. Sie zuckte zurück, wagte es aber nicht, sich zu wehren. Ihr Blick ging angstvoll in Richtung des Messers. Dann fixierte sie Ethan und in ihren Augen blitzte ein Funken Hoffnung auf.
»Ich bin dein Vater, Haley… Wieso nennst du mich Detective?« Ethan war sich nicht sicher, ob Haley bei Sinnen war. Ob er ihn überhaupt erkannte.
»Das bist du doch! Ein Detective. Ein Cop der immer im Dienst ist! Der auf alle aufpassen kann, nur auf mich nicht!«
Fassungslos setzte Ethan an, etwas zu erwidern, doch Haley ließ sich nicht beirren.
»Fünfzehn Jahre lang hast du mich ignoriert! Ich hab‘ gewusst, mein Dad ist irgendwo da draußen und sperrt Verbrecher ein, aber immer nur die, die fremden Leuten was tun!« Er nahm für einen Moment das Messer von Evangelines Hals. Ethan bemerkte, wie sie schnell und tief durchatmete, während Haley den Reißverschluss seiner Sportjacke öffnete und sie über seine Schultern zu Boden fallen ließ. Darunter war sein Oberkörper nackt.
»Hier, das waren auch Verbrecher!« Haley deutete auf mehrere, fast kreisrunde Narben an seinem linken Oberarm. »Zigarettenkippen!« Er zeigte auf eine längliche, weiß hervortretende Narbe an seinem Unterarm. »Ein verschissenes Küchenmesser!!« Er breitete die Arme aus. »Das alles hättest du verhindern können!!«
Ethan stockte der Atem. Er hatte Fotos gesehen, kurz nach Katys Tod, im Zuge der Adoption. Fotos, nie das . Haley hatte immer pedantisch darauf geachtet, dass niemand seinen Oberkörper und seine Arme zu Gesicht bekam. Sogar bei seinen Tennisturnieren hatte er langärmlige Shirts getragen. Ethan konnte es ihm nicht verdenken. Sein Körper war wie das Mahnmal einer ruinierten Kindheit und jetzt ließ er seinem Vater Zeit, das ganze Ausmaß der Zerstörung zu begutachten. Ein scharfer Gegenstand hatte ein Netz feiner Striemen auf seiner Brust hinterlassen, eine Brandnarbe zog sich über den rechten Rippenbogen. Sogar Narben von Bisswunden waren zu erkennen und an Haleys rechtem Handgelenk zeigte sich deutlich die Spur eines verhinderten Suizidversuches.
»Ich hab's sogar richtig gemacht, aber sie konnten mich retten! Bedauerst du das, Detective?«
Ethan wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Kopf fühlte sich an, als müsse er jeden Moment
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