Abgründe (German Edition)
Stunden jagte er über die Interstate und seine Schulter brannte wie Feuer. Der Verband fühlte sich feucht an, als sei er durchgeblutet und Ethans Vorrat an Aspirin neigte sich dem Ende zu. In regelmäßigen Abständen schluckte er Tabletten ohne Wasser. Sie hinterließen einen bitteren Geschmack in seinem Mund und glitten seine Kehle herunter wie aufgeweichte Kreidestücke.
Anrufe auf seinem Handy ignorierte er gewissenhaft. Was sollte er Gladys oder Donovan sagen? Dass ihn die Bestie persönlich und allein nach Detroit gerufen hatte und er dabei war, diesem Ruf zu folgen?
Er passierte die ersten Stahlwerke, die vom Qualm aus den riesigen Schornsteinen und Kühltürmen vernebelt wurden und wusste, dass er fast am Ziel war. Katy Ames, Haleys Mutter, hatte nicht im Stadtzentrum gelebt, sondern in einem Vorort ganz in der Nähe von Ethans Elternhaus. Sie waren gemeinsam auf die Highschool gegangen und pünktlich zum Abschluss hatte er sie geschwängert. Er redete sich heraus und wollte nie Verantwortung übernehmen. Fünfzehn Jahre lang beschränkte sich seine Vaterschaft auf monatliche Zahlungen an Katy, die sie wahrscheinlich in Alkohol oder Drogen investierte, aber sicher nicht in Haley. Von Nachbarn hatte er später erfahren, dass sie zusehends abgerutscht war. Ethan war es nie in den Sinn gekommen, dass Haley vielleicht einen Vater gebraucht hätte.
Er passierte Melvindale und folgte der 75 nach Delray. Das Haus, in dem Ethan aufgewachsen war, hatte vor Jahren eine andere Familie gekauft, doch die Ruine von Katys Haus stand vermutlich bis heute leer. Wenn er dort nicht fündig werden sollte, waren Evangeline und Haley verloren, das wusste er, aber etwas sagte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war.
Delray war ein ehemaliger Chemie- und Stahlstandort, der jetzt mehr und mehr dem Verfall überlassen wurde. Nur noch wenige Tausend Menschen lebten hier und ganze Häuserzüge glichen eher Elko Tract als einem Teil der elftgrößten Stadt der Vereinigten Staaten. Schmutzig rote Bauten mit vernagelten Fenstern reihten sich aneinander, Strom- und Telefonleitungen zogen sich vielfach über die Straßen und endeten dann im Nichts. Einige der abrissreifen Gebäude waren zum Teil von Gräsern und Efeu überwuchert, der Asphalt war überall brüchig und von tiefen Schlaglöchern durchzogen. Jedes einzelne davon jagte neuerliche Schmerzen durch Ethans Schulter, er fühlte sich fiebrig und benommen und hatte alle Mühe, das Lenkrad nicht zu verreißen und keine Schlangenlinien zu fahren.
Erneut wählte er Haleys Nummer und wieder hatte er nur die künstliche Stimme der Mailbox dran. Zum wahrscheinlich hundertsten Mal an diesem Tag stiegen ihm Tränen in die Augen. Er zwang sich, an die Chance zu glauben, sie beide unversehrt zu finden.
Ethan war fast am Ziel. Er hatte die Interstate verlassen und bog nun auf die West End Street ab. Obwohl er so lange nicht mehr hier gewesen war, hätte er den Weg blind gefunden. Es schmerzte, wieder in seiner Heimatstadt zu sein, wegen der Erinnerungen und wegen dem, was noch kommen würde. Dies hier war die perfekte Kulisse für den Horror, der ihm bevorstand. Es war die Kulisse, die er der Bestie für ihren größten Schlag gegen ihn zugetraut hätte.
Ethan steuerte den Wagen nach links in die Melville Street und von dort in die Solvay Street, die Straße, in der Katy mit Haley und ihren ständig wechselnden Liebhabern gelebt hatte. Die alten Wohnhäuser standen weit auseinander und große Rasenflächen, die in längst vergangenen Zeiten mal Gärten gewesen waren, dominierten das Bild. Die meist zweistöckigen Backsteinbauten waren verlassen oder wurden von Obdachlosen und Junkies bewohnt. Die Fenster waren eingeworfen oder vernagelt. Laub hatte sich im Rinnstein gesammelt, ein schmutzig-orangfarbeer Basketball lag mitten auf der Straße.
Ethan nahm all diese Eindrücke auf und nahm sie doch nicht wahr. Er suchte das Haus mit der Nummer 272 oder besser gesagt das, was von diesem Haus übrig war und entdeckte das mehrstöckige, ehemals teure Nachbargebäude, das Katys kleines Haus seit jeher verdeckte. Es war verfallen wie alles hier, die weiße Farbe fast komplett abgeblättert, das Holz darunter rissig und morsch.
Im Sichtschutz des Hauses stellte er den Wagen ab und atmete durch. Er wusste nicht, was ihn gleich erwarten würde. Es konnte alles sein, es gab keine Einschränkungen, nichts, was er ausschließen konnte.
Nachdem er die ihn erneut überkommende Übelkeit
Weitere Kostenlose Bücher