Abgründe (German Edition)
explodieren und einzig der winzige Hoffnungsschimmer in Evangelines Augen hielt ihn davon ab, endgültig den Verstand zu verlieren.
»Hast du genug gesehen, Ethan Hayes? Weißt du jetzt, wer ich bin?!«
Haley Ames, wisperte eine Stimme in Ethans Kopf und vor seinem geistigen Auge baute sich das Bild seines Sohnes auf, wie er ein blutiges A in eine bleiche Frauenstirn ritzte. Obwohl er seit der Adoption offiziell Ethans Nachnamen trug, identifizierte er sich offensichtlich immer noch mit dem Namen seiner Mutter – trotz des Martyriums, das er in den ersten fünfzehn Jahren seines Lebens hatte durchmachen müssen.
»Ich wusste damals nicht, dass du misshandelt wurdest, Haley«, erklärte er tonlos und wie mechanisch.
»Wenn du dich auch nur ansatzweise für mich interessiert hättest, hättest du es schon gemerkt!« Ethan machte vorsichtig einen Schritt auf Haley zu und sofort presste dieser das Messer wieder an Evangelines Kehle.
»Keinen Schritt näher, sag‘ ich!«
Ethan gehorchte. Er sah, wie sich Evangelines Brust unruhig hob und senkte. Ihre Hände waren um die Stuhllehnen verkrampft und mit der breiten Klinge an ihrem Hals wirkte sie zerbrechlicher denn je. Das konnte alles nur ein schlechter Scherz sein. Ethan wollte nicht glauben, was hier gerade geschah. Der wütende, junge Mann, der dort vor ihm stand, war nicht der Junge, der letzte Woche nach New York aufgebrochen war. Und doch war er es. Auf einmal ergab das Chaos der letzten Wochen einen Sinn.
»Du hast sie alle getötet, um...«, hörte er sich selbst sagen, doch er konnte nicht weiter sprechen.
»Ja, das hab‘ ich«, schleuderte Haley ihm entgegen. »All die Heuchlerinnen und Lügnerinnen. Ich musste sie töten, Ethan. Jemand musste dich aufwecken!«
Evangeline schluchzte. Der Wahnsinn des Jungen schien ihr nahe zu gehen. Haley schüttelte den Kopf und musterte Ethan abschätzig, wie einen Versager.
»Ich habe wirklich gehofft, dass Mum reichen würde.«
»Du…« Mehr brachte Ethan nicht hervor.
»Ich hab‘ ihren Whisky mit Rohypnol gemischt und als sie tief und fest geschlafen hat, hab‘ ich mit ihrer Kippe das verdammte Sofa in Brand gesetzt!«
Ethan schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. Doch der mordlüsterne Ausdruck in Haleys Augen sprach eine andere Sprache.
»Ich hab‘ gedacht, wenn du mich aufnimmst, wird alles besser. Weil du Bulle bist! Aber es ist gar nichts besser geworden.« Er tippte sich fest gegen die Stirn. »Diese... diese verdammten Träume… Du hast ja keine Ahnung, wie das ist! Und nie hast du gefragt. Nie hat dich interessiert, wie mein Leben so gelaufen ist, bevor du dich dazu herabgelassen hast, mein Vater zu sein!«
Er verlor zusehend die Kontrolle. An Evangelines Hals zog sich eine dünne Blutspur herunter, sie keuchte erschrocken. Ethan musste an die zahlreichen Frauen denken, die mit durchtrennter, zugenähter Kehle in ihren Gräbern oder noch in der Pathologie lagen. Sie alle waren das grausame Werk seines Sohnes.
»Ich hatte keine Ahnung, dass du darüber reden willst, Haley.« Es stimmte. Ethan hatte seinen Sohn damals zu Doktor Jermyn geschickt, aber Haley hatte die Therapie nach wenigen Sitzungen abbrechen wollen. Ethan hatte geglaubt, er würde die Misshandlungen erfolgreich verdrängen, aber offensichtlich hatte er einen anderen Weg gefunden, damit zurecht zu kommen .
»Ich muss erst zum Mörder werden, um deine volle Aufmerksamkeit zu kriegen, das ist doch verrückt!« Haley drückte für einen Moment den Handrücken gegen seine Augen.
Ethan sah, wie Evangeline an ihren Fesseln zog und schüttelte ganz leicht den Kopf. Haley war eine tickende Zeitbombe. Er musste nur den Druck verstärken, um sie zu töten. Ethan zwang sich zu oberflächlicher Ruhe. Er hätte jetzt Gladys gebraucht. Ihr Psychologie. Durch den Schock war er wie benommen und nur langsam drang zu ihm durch, dass es hier immer noch um das Leben eines weiteren Opfers der Resort City-Bestie ging. Es war noch nicht vorbei.
Verstohlen sah er sich im Raum um. Das ehemalige Kinderzimmer war entkernt worden wie all die anderen Räume im Haus, um einen Schwelbrand zu vermeiden. Das Fenster hier oben war eine winzige Luke im Dach und durch einen Riss in der Außenwand fiel fahles Mondlicht ins Zimmer. Die Tapete, deren ursprüngliche Farbe Ethan nicht mehr erkennen konnte, war vermodert. Der Teppichboden war herausgerissen worden und darunter lag ein hölzerner Dielenboden, welcher dem im unteren Stockwerk glich. Ethan spürte das
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