Abgründe (German Edition)
Im Endeffekt ging es doch nur darum, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dies funktionierte dank seiner Eingebungen und Instinkte immer recht gut, auch wenn er es vorzog, den Job Gladys zu überlassen. Doch sie war nicht hier und so musste seine Fantasie herhalten.
Die Szenerie baute sich ganz automatisch vor seinem inneren Auge auf, während er die Straße abfuhr. Der Killer hatte Ava beobachtet, vermutlich ab und zu das South Easy besucht und mit der Zeit herausgefunden, wo sie wohnte. Dann hatte er sich auf dieser Strecke die unbelebteste Stelle ausgesucht und sein kleines Schauspiel abgezogen…
Ethan fuhr rechts ran und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Der Täter musste ein verbeultes Auto oder zumindest ein Fahrrad dabei gehabt haben, wenn er Ava glaubhaft weismachen wollte, sich durch einen Unfall verletzt zu haben. Doch hätten ihm die Streifenbeamten oder die Highway Patrol längst mitgeteilt, wenn ein herrenloses Fahrzeug gefunden worden wäre. Ethan rieb sich die Schläfen.
Der Täter hat irgendwo gelauert und auf Ava gewartet. Er hat ihre Scheinwerfer von weitem gesehen, ist auf die Straße getreten und - Nein, das war viel zu offensichtlich. Er hat irgendwo im Gebüsch gelauert, bis Avas Auto fast auf seiner Höhe war und dann…
Ethan gab Gas und raste die verlassene Straße entlang, auf der Suche nach einem Gebüsch, das dicht genug war, um einen erwachsenen Mann zu verbergen. Sein Puls beschleunigte sich und er starrte angestrengt nach vorn. Meilenweit, wie es ihm vorkam, gab es nichts als verdorrtes Gras und vereinzelte Bäume, aber dann, endlich, tauchte vor ihm ein Rosmarinbusch auf, der seinen Vorstellungen entsprach.
Ethan fuhr auf den Seitenstreifen und trat auf die Bremse. Das Auto kam mit quietschenden Reifen zum Stehen und er sprang aus dem Wagen auf die leere Fahrbahn. Zügig lief er auf den Busch zu und stolperte über einen großen Stein, der ihn beinahe zu Fall brachte. Sein Herzschlag beschleunigte sich und er sah sich um. Er war auf dem richtigen Weg. Mitten auf der Straße lag noch ein weiterer, kleinerer Stein. Eines stand fest: Hier gab es weit und breit kein Schlagloch, keinen Hang, kein Flussufer, nur verwilderten Rasen und die asphaltierte Straße.
Wo also kamen diese Steine her? Beide auf der Fahrbahn, an fast derselben Stelle. Als stünde der Täter hinter ihm und flüsterte es ihm zu, glaubte Ethan plötzlich zu wissen, was passiert war.
Er hat im Gebüsch gelauert, bis Avas Wagen fast auf seiner Höhe angekommen ist. Dann hat er ihr den ersten, kleinen Stein auf die Motorhaube geworfen und sie so von der Straße abgelenkt. Den Bruchteil einer Sekunde, in dem sie den Blick von der Fahrbahn abgewendet hat, hat er genutzt und den zweiten, größeren Stein zwischen ihre Reifen geworfen. Ava hat erschrocken gebremst und ist ausgestiegen.
Und weil dies einer der Pechtage im kurzen Leben der Ava Draper gewesen war, hatte hinter ihrem Wagen auf der menschenleeren Straße der Resort City-Killer gelegen. Scheinbar von ihr angefahren, scheinbar schwer verletzt, überströmt von Filmblut.
Die Presse hatte Recht. Dieser Mann war eine wahre Bestie.
-13-
Ethan legte auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das verschwitzte Gesicht. Er hatte der Reihe nach die Spurensicherung, seine Leute und den Captain über seinen Fund informiert.
Das Team von der Spurensicherung war beleidigt losgezogen und hatte ihn am mutmaßlichen Ort der Entführung abgelöst, nicht ohne sich wegen der gestörten Sonntagsruhe zu beschweren. Offensichtlich war noch immer nicht allen Mitarbeitern der Polizei klar, in was für einer ernsten Situation sie sich befanden. Ein Serienmörder war eine tickende Zeitbombe, die jede Sekunde aufs Neue explodieren konnte. Ethan wünschte sich, die Spurensicherung bestünde aus lauter Josephine Kings.
Er ersparte seinem Team die Mühe, sämtliche Theaterbedarfe abzuklappern und nach den Kunstblutkäufern der vergangenen Wochen zu befragen. Es war wie die Sache mit dem Arsen: Es gab nichts, was man sich nicht schnell und anonym über das Internet beschaffen konnte.
Seufzend verließ Ethan sein Arbeitszimmer. Es war mittlerweile später Nachmittag und Haley war vom Tennis nach Hause gekommen. Seit seiner Zeit auf dem Kenyon College war er ganz verrückt nach diesem Sport. Etwas, das er garantiert nicht von seinem Vater hatte, aber es half ihm, abzuschalten.
Das rasselnde Geräusch der Klingel holte ihn aus seinen Gedanken. Er stand nicht
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