Abgründe (German Edition)
Moment, dann zog er seinen Führer daran entlang bis zu einem Tor. Es hing schief in den Angeln, war aber mit einer dicken Kette verschlossen.
»Die kann noch nicht alt sein«, sagte Ethan leise und deutete mit dem Kinn darauf. »Sie glänzt noch richtig.«
Gladys schwieg, doch ihr Blick verfinsterte sich. Das war Antwort genug.
»Umrunden wir den Zaun«, befahl Ethan und ging vor. Er wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab und zog seine Waffe. Sein Herz raste und er musste sich zügeln, um mit Bedacht vorzugehen und nicht einfach loszustürmen. Der kleinste Fehler konnte Claire in Gefahr bringen.
Nach wenigen Metern entdeckte er ein Loch im Zaun, groß genug für einen menschlichen Körper. Er zögerte nicht lange und schob sich durch die Öffnung. Hinter sich hörte er die Schritte der anderen auf dem Waldboden. Sie folgten ihm und hielten ihm den Rücken frei. Gut so.
Mit erhobener Waffe näherte er sich der Hinterseite der Hütte. Dort befand sich ein kleines Fenster. Die Scheibe war eingeschlagen und das, was er hinter den gezackten Glasresten sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Eine Frau lag auf dem Boden. Ihr Körper war blutverschmiert und auf ihrer Stirn prangte das obligatorische, blutrote A. Die blau-gelbliche Färbung ihrer Haut deutete darauf hin, dass sie nicht mehr am Leben war. Die zerfetzte, weiße Bluse, die sie trug, verriet noch etwas anderes: Es war Claire. Seine frisch verheiratete Exfreundin, die offensichtlich hatte sterben müssen, weil sie ihn gekannt hatte. Ethan wandte sich ab und übergab sich auf den Waldboden.
Wie in Trance hatte er zugesehen, wie die Tür geöffnet worden war und man nach einer Weile Claires Leiche, mit kleinen Plastiktüten über ihren Händen, aus der Hütte getragen hatte. Sie war erdrosselt worden. Man musste kein Gerichtsmediziner sein, um die Würgemale an ihrem Hals als solche zu erkennen.
Die Hütte selbst war voll mit Werkzeugen, die der Killer vermutlich als Folterinstrumente benutzt hatte. Der Boden unterhalb des Stuhls war blutverklebt und es hing ein Gestank in der Luft, der das Atmen unerträglich machte.
Ethan nahm das alles nur am Rande wahr. Er wusste, dass er die Fakten kennen sollte, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte. Er konnte und wollte nicht glauben, dass jemand herum lief und Menschen tötete, nur um ihn fertig zu machen. Mit diesem Mord hatte der Täter ihn getroffen, einen Punkt gelandet. Ethan wusste nicht, wie er jemals mit der Schuld fertig werden sollte, die er, wenn auch ungewollt, auf sich geladen hatte. Wenn er doch nur eher verstanden hätte, dass es dem Killer um persönliche Rache an ihm ging, dann hätte er… ja, was eigentlich? Jeden warnen können, der ihm je begegnet war? Jeden, mit dem er irgendwie in Verbindung stand? Das konnte er nicht einmal jetzt, wo er wusste, was Sache war.
-65-
Besorgt nahm Evangeline wahr, wie angespannt Ethan war. Er umklammerte sein Glas und starrte, seit sie die Bar betreten hatten, fast ausschließlich düster auf den Boden. Sie fragte sich, warum er ausgerechnet ein Lokal als Treffpunkt gewählt hatte. Offensichtlich bedrückte ihn etwas und sie bezweifelte, dass sie hier genügend Ruhe finden würden, um darüber sprechen zu können.
»Vielleicht gehen wir besser zu dir oder zu mir, Ethan.«
»Nein, schon gut.« Er sah auf und sein Blick war voll unterdrückter Wut. Sicherlich nicht auf sie, aber der Ausdruck gefiel ihr trotzdem nicht.
»Dann sag mir wenigstens endlich was los ist.« Auch wenn sie sich bemühte einfühlsam zu sprechen, wirkten ihre eigenen Worte drängend auf sie. Vorsichtig legte sie eine Hand auf seine Schulter.
»Sie ist tot.«
Evangeline schluckte. Es war zu erwarten gewesen, dass sie Claire Travis nicht lebend finden würden, auch wenn sie insgeheim alle das Gegenteil gehofft hatten.
Ethan leerte seinen Drink, dann wandte er sich ihr zu. »Ich muss dir etwas sagen, Evey. Claire war früher meine Verlobte.«
Ein dumpfes Gefühl machte sich in Evangelines Magengegend breit. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.
»Dieser Kerl kommt mir immer näher, verstehst du?« Er schüttelte den Kopf. »Wir sollten uns vielleicht wirklich nicht gemeinsam in der Öffentlichkeit sehen lassen.« Er winkte die Kellnerin heran, um ihre Drinks zu bezahlen.
»Nicht mehr in der Öffentlichkeit oder…«
Ethan blickte sie an und Verwunderung machte sich in seinen Augen breit. Er lachte kurz. Es klang hart und verbittert.
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