Abgründe (German Edition)
»Bitte, zieh jetzt keine falschen Schlüsse. Ich habe einfach Angst um dich.« Er starrte auf die Tischplatte.
Evangeline wurde mulmig bei dem Gedanken an das, wie sie Ethan noch hatte sagen wollen. Der Moment war denkbar ungünstig und sie konnte sich vorstellen, welch ein Theater gleich folgen würde. Trotzdem musste sie da jetzt durch.
»Hör mal, Eth. Wegen heute Mittag... ich hab' mich anders entschieden. Ich kann nicht bei meiner Mutter wohnen.«
Überrascht sah er sie an.
»Wir hatten heute Nachmittag einen Streit. Einen heftigen Streit , der mir wieder vor Augen geführt hat, wieso ich sie so selten sehe und –«
Er ließ sie nicht ausreden. »Es geht hier möglicherweise um dein Leben. So dumm kannst du doch nicht sein!«
»Mein Leben ist immer noch meine Angelegenheit, Ethan! Wenn du mit mir zusammen sein willst, akzeptier bitte, dass ich keine Schachfigur auf deinem Polizei-Spielbrett bin, die du herum schieben kannst, wie es dir gerade passt! Ich habe bisher ganz gut auf mich selbst aufpassen können und ich sehe keinen Grund, wieso sich das ändern sollte.« Sie stand auf und schulterte ihre Handtasche. »Ich warte vor der Tür.«
Als Ethan heraus kam, hatte er sich offensichtlich beruhigt. Er entschuldigte sich für sein besitzergreifendes Verhalten und Evangeline war froh, dass er sich bemühte, sie zu verstehen. Sie hatte kein großes Interesse daran, das duldende Frauchen eines dominanten Mannes zu werden. Allein beim Gedanken daran schnürte sich ihr die Kehle zu.
Ethan und sie hatten einiges zu klären. Sie ergriff seine Hand und zog ihn mit in Richtung Auto. Da ging plötzlich alles so schnell, dass sie kaum wusste, wie ihr geschah. Ein Kerl im Trainingsanzug riss ihr im Vorbeirennen die Handtasche weg, sodass sie ein paar Schritte mitstolperte und schließlich gegen Ethans Wagen prallte. Dieser hatte sie längst losgelassen und setzte dem Taschendieb nach, bekam ihn zu fassen und schleuderte ihn mit dem Gesicht voran gegen die Wand der Bar, aus der sie eben erst gekommen waren.
Erst jetzt verstand Evangeline. In dieser Tasche war einfach alles. Ihr Schlüssel, ihr Handy, ihr Geld…
Ethan drehte den Kerl zu sich herum und verpasste ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Evangeline schluckte und trat näher. Einige Passanten hatten sich um Ethan und den blutenden Dieb versammelt, der aussah wie ein Junkie oder Obdachloser und beteuerte, dass er das alles nicht böse gemeint habe.
»Ist mir total egal, wie du's gemeint hast«, schrie ihn Ethan an und zog ein paar Handschellen aus seiner Innentasche.
»Ethan, jetzt übertreib bitte nicht!« Evangeline trat energisch näher und fasste Ethan an der Schulter.
Die Nase des Taschendiebs blutete heftig und auf seiner Stirn bildete sich ein leuchtend roter Fleck, der sicher zum Bluterguss werden würde. Auch die Passanten schienen empört über das schroffe Vorgehen des Cops.
»Ethan, komm schon. Es ist doch noch mal gut gegangen und ich will jetzt wirklich nach Hause.«
Für einen Moment war Ethan abgelenkt und sah sie an. Der Junkie nutze die wertvollen Sekunden, riss sich los und stolperte davon. Noch ehe Ethan ihm erneut folgen konnte, war er zwischen den Passanten verschwunden. Niemand machte Anstalten, ihn aufzuhalten.
Ethan befreite sich aus Evangelines Griff. Frustriert rammte er die unbenutzten Handschellen in seine Tasche und wandte sich ab.
Evangeline schüttelte den Kopf über seinen Zorn. Sie wünschte, er würde einen anderen Weg finden, mit der Trauer über Claire Travis' Tod fertig zu werden.
»Fahr mich jetzt bitte nach Hause, ja?«
Die Fahrt zu Evangelines Haus verlief schweigend. Sie wusste nicht, was sie zu seinem Ausraster sagen sollte, auch wenn es ihr insgeheim schmeichelte, dass er sich so für sie eingesetzt hatte. Trotzdem hatte es sie erschreckt, mit welcher Brutalität Ethan vorgegangen war. Natürlich, Ethan war kein Mann, der andere mit Samthandschuhen anfasste, aber dass er zu solchen Ausbrüchen neigte, hätte sie auch nicht erwartet.
Ethan parkte den Wagen und wartete, bis sie die Initiative ergriff. Doch sie dachte nicht daran. Stattdessen öffnete sie ihre Handtasche und gab ihm seine Pistole zurück, die er ihr auf der Fahrt zu ihrer Mutter angedreht hatte.
»Was…?« Ethan sah sie so verwirrt an, als hätte sie ihn gerade aus dem Tiefschlaf gerissen.
»Die brauche ich nicht. Es macht mich nervös, sie in meiner Tasche zu haben. Stell dir vor, so etwas wie gerade passiert noch einmal.
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