Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
linken Hand gehabt und zum Stich ausgeholt. Sie habe Todesangst bekommen. Was dann passiert sei, wisse sie nicht mehr genau. Irgendwie habe sie seinen Arm zu fassen gekriegt und ihm das Messer entwinden können. Dabei sei ihr sicher zugute gekommen, dass er aufgrund seines schweren Bandscheibenleidens relativ unbeweglich und langsam war. Dann habe sie blindlings zugestochen. Immer und immer wieder. Sie wisse nicht mehr, wie oft, und sie wisse auch nicht, wohin. Ihr sei nicht einmal bewusst gewesen, dass sie beide aus seiner Betthälfte gefallen seien. Irgendwie habe sie sich hochgerappelt und das Zimmer verlassen. Das Messer habe sie vorher fallen lassen. Auf dem Flur sei Sohn Florian gestanden. Er habe nichts gesprochen, nur angstvoll geschaut. Sie sei ins Wohnzimmer gegangen und habe die Polizei gerufen.
Auf die Frage, wie es ihr gelungen sein will, dem viel stärkeren Mann das Messer zu entwinden, ohne selbst die geringste Verletzung davonzutragen, verwies sie abermals auf die stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit ihres Mannes. Nur deshalb sei es ihr gelungen, ihm das Messer zu entwinden. Offenbar habe sie in ihrer Todesangst enorme Kräfte entwickelt. Da ihr Mann als Rechtshänder das Messer in der linken Hand hielt, verfügte er womöglich nicht über die Kraft, die er mit seiner Rechten
gehabt hätte. Sie dagegen habe als Rechtshänderin mit ihrem rechen Arm zugepackt und dadurch den Kraftunterschied ausgleichen können. Wie es ihr aber genau gelungen sei, ihm das Messer abzunehmen, konnte sie weder schlüssig erklären noch demonstrieren. Sie blieb in diesem Punkt so oberflächlich, dass es keine Zweifel gab: Sie schilderte einen Vorgang, den sie so nicht erlebt, sich nur gedanklich zurechtgelegt hatte. Wie bei »Columbo« dachte ich mir. Dort meinen die Täter auch immer, irgendwelche Ungereimtheiten erklären und aufklären zu müssen. Aber dass ein Mann, der sich kaum bewegen kann, zwei Stunden nachdem er zu Bett gegangen war, plötzlich hellwach einen Messerangriff gestartet haben soll, erschien mir doch sehr lebensfremd.
Ihre Hausschuhe würde sie immer im Flur ausziehen und nicht erst vor dem Bett. Da es im Schlafzimmer dunkel sei und sie kein Licht mache, wenn sie zu Bett gehe, habe sie sich das angewöhnt. Raffiniert, dachte ich. Das ist kaum zu widerlegen. Auf die Frage, warum ihr Bett unbenutzt war, konterte sie mit der Behauptung, es sei nicht unbenutzt gewesen, es habe nur unbenutzt gewirkt. Sie sei ja nur ganz kurz drin gelegen, als er sie angegriffen habe. Und nach kurzem Kampf sei sie sofort auf seine Seite gerollt. Da ihre Matratze mit einem Spannbettuch überzogen sei, sei es logisch, dass es keine Falten geschlagen habe und unbenutzt wirkte. Drum nenne man sie ja Spannbetttücher, erklärte sie schnippisch und war schließlich beleidigt wegen all dieser Fragen. Ob ich Zweifel hätte an ihrer Aussage, wollte sie wissen. Dann sähe sie nämlich keine Basis mehr für weitere Angaben zur Sache.
Ich ruderte zurück, um einen Abbruch zu verhindern.
Allerdings nur insoweit, als ich ihr erklärte, es müssten eben alle Eventualitäten abgeklärt und alle Ungereimtheiten ausgeräumt werden. Das komme letztendlich auch ihr zugute, manifestiere es doch die Glaubhaftigkeit. Das überzeugte sie, und so erklärte sie schließlich noch, warum die Bettdecke so fein säuberlich zurückgeschlagen war. Weil sie nämlich noch gar nicht dazugekommen war, diese hochzuziehen, so schnell sei der Angriff erfolgt.
Natürlich hatte ich längst erkannt, dass diese Aussagebereitschaft Teil ihres Tatplanes war. Es wirkt schließlich nicht sehr gut, wenn man einerseits in Notwehr gehandelt haben will, andererseits aber die Aussage verweigert oder einen Anwalt braucht. Wozu, wenn man nichts zu verbergen hat? Also ließ ich mich weiterhin instrumentalisieren und nahm ihre Aussage mitsamt der Ungereimtheiten und der Widersprüche brav entgegen. So wie es meine Pflicht war.
Ihre Angaben erschienen mir nicht glaubhaft. Wer schon einmal gesehen hat, wie ein Bett aussieht, in dem gekämpft oder andere Leidenschaften vollzogen wurden, egal ob Spannbetttuch oder nicht, der wusste, dass in ihrer Betthälfte weder ein Kampf stattgefunden noch begonnen haben kann. Wir würden eine Rekonstruktion machen, nahmen wir uns vor.
Annabella W., die Angegriffene, hatte keinerlei Abwehrverletzungen davongetragen. Ihr Mann Helmut, der Angreifer, hatte dagegen schwerste Abwehrverletzungen an beiden Händen und Armen. Sogar in den Kopf war
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