Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
er mehrmals getroffen worden. Der Mann hatte um sein Leben gekämpft, das stand fest. Er hatte offensichtlich versucht, die Stiche mit den Armen und Händen abzuwehren.
Zwei Herzstiche hatte er erlitten, jeder einzelne wäre für sich allein tödlich gewesen. Die meisten anderen Stiche fanden sich vorwiegend im Oberkörper; sowohl im Brust- als auch im Rückenbereich, zwei Einstiche waren sogar an der Außenseite des rechten Oberschenkels. Sie müssen gesetzt worden sein, als Helmut W. schon am Boden vor dem Bett lag. Die Stiche wurden größtenteils mit enormer Wucht geführt, beim Auftreffen auf das Knochengerüst hatte sich die Messerspitze verbogen. In die Weichteile war die 25 Zentimeter lange Klinge teilweise bis zur vollen Länge eingedrungen.
Wir sprechen bei derartigen Verletzungsbildern von »Blutrausch« oder dem sogenannten Übertöten. Womit gemeint ist, dass Täter mehr getan haben, als zur Tötung nötig gewesen wäre. Meist ein Hinweis darauf, dass sich aufgestaute Emotionen oder Perversionen entladen haben dürften. Letzteres konnte man ausschließen. In einen Blutrausch können übrigens auch Täter geraten, die ihre Tat eiskalt geplant und eigentlich gar nicht die Absicht hatten, derart überzureagieren. Panik, Angst, plötzlich hervorbrechender Hass oder unerwartete Gegenwehr können ebenfalls Auslöser dafür sein, warum Täter die Kontrolle über sich verlieren. Und genau darauf wollte Annabella W. hinaus. Sie sei in Panik geraten, habe Todesangst gehabt und deshalb die Kontrolle über sich verloren. Ich glaubte ihr kein Wort.
Der Sohn Christoph blieb bei seiner Version, nichts mitbekommen zu haben. Die Vernehmung musste abgebrochen werden, da der junge Mann eine Kreislaufschwäche erlitt. Er war, wie man das salopp ausdrückt, fix und fertig. Eine tiefergehende Befragung war deshalb in dieser Nacht nicht mehr möglich.
Morgen würde Annabella W. dem Haftrichter vorgeführt werden. In der Regel haben wir Ermittler nicht viel Zeit, um so viel Beweismaterial zusammenzutragen, dass es zum Erlass eines Haftbefehles reicht. Hat uns doch der Gesetzgeber eine Frist »bis zum Ablauf des darauffolgenden Tages« ab Festnahmezeitpunkt gesetzt. Spätestens dann muss eine vorläufig festgenommene Person wieder auf freien Fuß gesetzt oder einem Ermittlungsrichter vorgeführt worden sein. Dummerweise kommt es vor, dass Straftäter fünf Minuten vor Mitternacht festgenommen wurden. Das bedeutet, dass der erste Tag bereits nach fünf Minuten abgelaufen und damit für uns verloren ist. Bleibt uns also nur noch der darauffolgende Tag, um unsere Beweise zu sammeln und alle Vernehmungen durchzuführen. Viel lieber ist uns Ermittlern deshalb, wenn jemand fünf Minuten nach Mitternacht festgenommen wurde. Wir haben dann zusammen mit dem darauffolgenden Tag insgesamt fast 48 Stunden zur Verfügung, um der Staatsanwaltschaft die Beweise und Indizien vorzulegen, die sie braucht, um einen Haftbefehl beantragen zu können.
Annabella W. war morgens um 1.30 Uhr festgenommen worden. Wir hatten also theoretisch noch 46 Stunden und 30 Minuten Zeit, Beweise für ihre Schuld oder Unschuld zu sammeln. Ziel unserer Arbeit ist nämlich nicht die Be- oder Entlastung von Tatverdächtigen, sondern die Ermittlung der Wahrheit. Egal, wie diese aussieht. Auch wenn uns immer wieder unterstellt wird, es käme uns nur darauf an, möglichst schnell einen Täter präsentieren zu können. Das tut weh, weil es nicht stimmt. Allein schon deshalb nicht, weil keine Staatsanwältin und kein Staatsanwalt für derartige Machenschaften zu
gewinnen wäre. Abgesehen davon, dass nach der Staatsanwaltschaft auch noch der Ermittlungsrichter zu manipulieren wäre und nach dem Ermittlungsrichter die nächste Haftprüfung durch einen anderen Richter usw. Ich habe es jedenfalls nie erlebt, dass es leicht gewesen wäre, Juristen von der Notwendigkeit eines Haftbefehles zu überzeugen. Im Gegenteil. Oft genug haben wir uns geärgert, weil Täter auf freiem Fuß belassen wurden, obwohl unserer Meinung nach die Anordnung der Untersuchungshaft angezeigt gewesen wäre.
Was der Computer ausspuckte, kam der Beschuldigten entgegen. Wiesen die Unterlagen doch aus, dass Annabella W. über einen längeren Zeitraum Opfer sogenannter häuslicher Gewalt war. Es fand sich sogar ein ärztliches Attest, aus dem hervorging, dass sie über Ohrensausen und Kopfschmerzen geklagt hatte, angeblich verursacht durch Schläge auf den Kopf seitens ihres Ehemannes. Das Attest hatte
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