Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
waren. Es ist doch bekannt, dass bei derartigen Rekonstruktionen wesentlich intensiver nachgestellt wird. Schließlich will man ja ein bestimmtes Ergebnis erzielen.« Ja, tatsächlich sollte der Herr Rechtsanwalt vor Gericht diese »marginalen« Unterschiede so begründen, wie ich es vorausgeahnt hatte. Die Rekonstruktion genügte juristischen Ansprüchen nicht. Wie vieles, was zwar wahr, aber eben nicht beweisbar ist.
Annabella W. gehörte einem Damenstammtisch an. Man traf sich wöchentlich in einem schönen Weinlokal in der Innenstadt, unternahm gemeinsame Theater-, Konzertbesuche und Reisen. Drei Stammtischschwestern waren
Lehrerinnen wie Annabella W., zwei waren Anwältinnen und eine war Ärztin und Ehefrau ihres Hausarztes. Alle waren mehr oder weniger gut verheiratet und hatten Kinder. Trotzdem waren Männer ein Hauptthema bei diesen Zusammenkünften, und Männerwitze lockerten zu fortgeschrittener Stunde und nach dem soundsovielten Gläschen Wein die Stimmung auf. Wobei die Herren der Schöpfung nicht gut wegkamen. An einen der Witze, den eine der Damen nach der Vernehmung in lockerer Atmosphäre süffisant zum Besten gab, erinnere ich mich: »Wie nennt man einen Mann mit einem IQ über 50?« Ich zuckte mit den Schultern. »Begnadet«, gab sie selbst die Antwort, und wir lachten beide. Daraufhin erzählte auch ich einen Männerwitz. »Was ist der schnellste Weg zum Herzen eines Mannes?«, fragte ich, und diesmal zuckte sie mit den Schultern, fröhlich lächelnd in Erwartung der Auflösung. »Durch die Brust mit einem scharfen Messer«, antwortete ich und merkte sogleich, dass der Witz wohl nicht ganz passend war, denn ihr war das Lachen im Halse stecken geblieben. Sie verließ fluchtartig mein Büro. Kollegen haben mir hinterher unterstellt, ich hätte das absichtlich gemacht. Es sei meine unqualifizierte Reaktion auf die offensichtlich abgesprochenen Angaben gewesen, meinten sie. Jedenfalls war es geschmacklos, das gebe ich zu.
»Die glorreichen Sieben« nannte ich die Damen, nachdem sie alle vernommen worden waren. Wegen ihres scheinbar bedingungslosen Zusammenhaltes. Wobei ich sogar überzeugt war, dass alle die Wahrheit sagten. Oder besser gesagt das, was sie für die Wahrheit hielten und worüber sie sich zweifelsohne bereits vor ihren Vernehmungen einig waren. Annabella W. hatte offensichtlich
auch ihnen wochenlang suggeriert, um ihr Leben fürchten zu müssen ob ihres gewalttätigen Ehemannes, der Abend für Abend ein großes Küchenmesser mit ins Schlafzimmer nehme, um ihr Angst zu machen. Die schwierige Lage der »Schwester« war natürlich Diskussionspunkt und Gesprächsstoff bei allen Zusammenkünften seither. Kein Wunder, dass sie ihre Objektivität aufgegeben hatten.
Anfänglich habe man Annabella sogar noch geraten, durchzuhalten und das Feld keinesfalls freiwillig zu räumen. War sie doch schon fest entschlossen, aufzugeben und auszuziehen. Man habe sie gemeinsam überzeugt, dass es sich sicherlich nur um Einschüchterungsversuche handle. Später, als die Sache mit dem Messer immer bedrohlicher geworden sei, sei es dann Annabella gewesen, die plötzlich nicht mehr aufgeben wollte. Und obwohl zwei Anwältinnen zugegen waren, die eigentlich hätten wissen müssen, was in einem Fall wie diesem zu tun sei, gelang es Annabella W. immer wieder, alle Rettungsversuche, Lösungsvorschläge, Ratschläge und Hilfsangebote als ungeeignet abzulehnen, und zwar aus den verschiedensten Gründen. Immer war ihr eine andere Ausrede eingefallen. Vorwiegend wegen des Sohnes, der nicht belastet werden sollte oder nichts davon wissen dürfe, usw. Also fand man keine Lösung, und so blieb nur die Hoffnung, dass es nicht zum Äußersten kommen werde.
Insgeheim hatten die Damen die Gefahr für Annabella wohl als doch nicht so groß eingeschätzt. Auch wenn keine von ihnen das hinterher zugeben wollte. Warum sie dann aber trotzdem nichts unternommen hatten, auch gegen den Willen von Annabella, vermochte keine zu erklären. Dass die Geschichte mit dem Messer im Schlafzimmer
erstunken und erlogen gewesen sein könnte, wiesen sie empört von sich. Alle waren davon überzeugt, dass Annabellas Ehemann ein Monster gewesen sein müsse. Obwohl sie ihn flüchtig kannten und an ihm »nichts Auffälliges« bemerkt hatten. Eigentlich sei er ganz nett gewesen. Aber man wisse ja, wie das mit gewalttätigen Männern sei: nach außen hin die Scheinheiligkeit in Person, und zu Hause fällt dann die Maske. Annabella und ihr Mann
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