Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
unterhielten übrigens getrennte Bekanntenund Freundeskreise. Man sei auch nicht familiär miteinander verkehrt. Auch früher nicht, als alles noch »eitel Sonnenschein« war. Obwohl ihr Mann als Polizeioberrat im höheren Dienst war, war er doch kein richtiger Akademiker. Und mit Lehrern und Anwälten vertragen sich Polizisten, diese primitiven Hardliner, sowieso nicht besonders.
Annabella W. blieb bis zur Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht in Untersuchungshaft. Sie hatte sich einen der renommiertesten Strafverteidiger Münchens genommen, der sich über die Maßen für sie einsetzte. Der Herr Rechtsanwalt war mir gut bekannt. Ein fairer und fähiger Mann, der auf dem Boden der Tatsachen stand und mit sogenannten Konfliktverteidigern nichts gemein hatte. Wie alle Anwälte, die etwas drauf haben. Nur die »Pfeifen« meinen, sich mit uns Ermittlern und der Justiz anlegen zu müssen. Dass meist ihre Mandanten die Rechnung dafür bezahlen, verschweigen sie natürlich. Und so gibt es immer wieder Straftäter, die sich einen solchen »Streiter für Gerechtigkeit und gegen Behördenwillkür« eigens deswegen suchen, weil sie glauben, der würde es »denen« schon zeigen. Das tut der Herr Konfliktverteidiger dann vor Gericht auch, aber
fast immer zieht er den Kürzeren und sein Mandant den längeren (Knastaufenthalt).
Ob der Anwalt von Annabella W. wirklich davon überzeugt war, seine Mandantin habe in Notwehr gehandelt, vermag ich natürlich nicht zu beurteilen. Ich konnte es mir eigentlich nicht vorstellen angesichts der eindeutigen Indizien, die ganz klar belegten, dass Annabella W. die Tötung ihres Mannes von langer Hand geplant und vorbereitet hatte. Aber es schien so zu sein, als habe der Anwalt in ihr das eigentliche Opfer gesehen. Sie war eine hervorragende Schauspielerin, die aufgrund ihrer eleganten Erscheinung und ihrer gepflegten Ausdrucksweise Eindruck zu schinden verstand. Was der Anwalt allerdings wirklich dachte, hat er mir natürlich nicht verraten.
Während der Untersuchungshaft erhielt Annabella W. viel Besuch von ihren Freundinnen, aber keinen einzigen von Dr. H., ihrem Geliebten. Der Herr Schulleiter ließ sich jedenfalls nicht blicken. Er war vernommen worden, aber das hätten wir uns genauso gut sparen können. Litt doch der Mann an so etwas wie Amnesie. Erst als ich ihm angedroht hatte, die gesamte Lehrerschaft zu seinem Verhältnis mit Annabella W. vernehmen zu lassen, kehrte sein Erinnerungsvermögen wieder zurück, und er räumte zögerlich sein Verhältnis mit »der Kollegin« ein, ohne jedoch auch nur das Geringste über ihr Privatleben sagen zu können. Der Mann war - mit Verlaub - ein Kotzbrocken.
Christoph besuchte seine Mutter nicht, obwohl er es unter Überwachung gekonnt hätte. Denn zwischenzeitlich war er der Beihilfe angeklagt, würde aber nicht mit der Mutter auf einer Anklagebank sitzen müssen. Sein
Verfahren war abgetrennt worden. Und aufgrund dieser offensichtlichen Abhängigkeit von der Mutter ging man von einem Reifedefizit aus, sodass das Jugendgericht zuständig war. Obwohl er hochintelligent war und im Studium glänzte. Wie das zusammenpasste, entzog sich meinem bescheidenen Wissen über Reifeverzögerung, Reifedefizite und Ähnliches. Offensichtlich hat Reife nichts mit Bildung zu tun. Und ich war eigentlich immer der Meinung, dass Bildung das beste Mittel gegen Reifedefizite ist.
Der Auftritt der Stammtischdamen vor Gericht war äußerst wirkungsvoll und beeindruckend. Alle sechs sahen nicht nur umwerfend gut aus, sondern waren auch noch rhetorisch brillant. Ein wahres Feuerwerk an Frauenpower, das da im Gerichtssaal dargeboten wurde, einhergehend mit hoher Solidarität mit der Angeklagten, von der sie ein Bild zeichneten, das sie nicht nur als Opfer, sondern gar als Märtyrerin und Heldin erscheinen ließ. »Fehlt nur noch der Heiligenschein«, sagte ich zum Kollegen, als ich die ziemlich identischen, hochemotionalen, gefühlvollen, aber allesamt überzeugenden Ausführungen dieser sechs Stammtischfreundinnen anhörte. Einige Zuhörerinnen im Gerichtssaal hatten sogar Tränen in den Augen, so rührend war es.
Als ausgesprochenen Feigling konnte man abermals Herrn Dr. H. erleben, den Vorgesetzten, Schulleiter und Geliebten von Annabella W. Er hatte sich mit »Händen und Füßen« dagegen gewehrt, als deren Liebhaber geoutet zu werden, kam aber natürlich nicht drum herum. Er musste aussagen und schließlich auch einräumen, dass er seit vier Jahren ein Verhältnis
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