Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
solchen
Drama gekommen war, machte die alten Leute sehr betroffen. Aber ihren Enkel wollten sie keinesfalls fallen lassen.
Als Annabella W. mit der Aussage ihres Sohnes konfrontiert wurde, wurde sie blass. Und lächelte trotzdem. Vielsagend. Irgendwie sinnierend, wissend. »Ist doch klar, dass der Junge einem wie Ihnen nicht gewachsen ist. Wer weiß, wie Sie ihn unter Druck gesetzt haben«, sagte sie scharf und kündigte an, keine weiteren Angaben mehr machen zu wollen. Sie würde sich nur noch über einen Anwalt äußern. Mir käme es offensichtlich nur darauf an, sie ins Gefängnis zu bringen. Nur weil ihr Mann Polizist gewesen sei. Sie wisse doch, dass wir alle zusammenhalten würden.
Da wurde ich ungehalten. »Wissen Sie was, Frau W.? Sie sollten nicht über andere Menschen den Stab brechen. Was Sie Ihrem Sohn angetan haben, das tut man als Mutter nicht. Haben Sie eigentlich noch nicht bemerkt, wie sehr Ihr Sohn leidet? Er wäre an dieser Mitwisserschaft zerbrochen. Kapieren Sie das eigentlich nicht? Sie sollten sich schämen! Aber nicht nur für das, wofür sie sich vor Gericht verantworten müssen, sondern vielmehr für das, was Sie Ihrem Sohn angetan haben. Eigentlich müssten Sie froh sein, dass der Junge die Kraft gefunden hat, die Wahrheit zu sagen. Das hat ihn erleichtert und das hilft ihm vielleicht, dieses Drama überhaupt zu verkraften. Aber das scheint Ihnen ja egal zu sein, oder?«
Das hat sie getroffen. Zum ersten Mal sah ich Annabella W. wirklich weinen. Sie schaute mich an und nickte. Gesprochen hat sie mit mir kein einziges Wort mehr.
Es erging Haftbefehl wegen Totschlags, nicht wegen Mordes. Die Staatsanwaltschaft sah aufgrund der Aussage
des Sohnes, die dieser natürlich vor einem Richter wiederholt hatte, den Beweis dafür als erbracht, dass eine Notwehrhandlung zwar fraglich sei, aber dennoch könnte sich die Frau aufgrund jahrelanger Aggressionen durch den Ehemann in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben. Affektstau oder so ähnlich nennt man das. Egal. Die Ermittlungen gingen weiter.
Und wir wurden fündig. Fanden wir doch all das Diebesgut, das aus der Wohnung verschwunden war. Sogar die chinesische Vase war darunter. Zu verdanken hatten wir dies einer weiteren Mitwisserin. Nämlich der unmittelbaren Nachbarin. Die ältere, nette Dame, die sich in der Tatnacht so rührend um Annabella W. gekümmert hatte, war noch einmal ausführlich vernommen worden. Und bei der Gelegenheit fragte sie unschuldig, was sie denn mit all den Sachen machen solle, die Annabella W. vor ihrem Ehemann in Sicherheit gebracht habe.
»Welche Sachen?«, wollte der Kollege wissen.
»Na, die Gemälde, das Porzellan und all das, was sie in meine Wohnung gebracht hat«, antwortete die nette Frau. Manchmal gibt es eben auch Zeuginnen, die man am liebsten umarmen würde. Eines aber war nun deutlich geworden: Annabella W. verstand es, andere zu instrumentalisieren und zu manipulieren. Man durfte gespannt sein, bei wem ihr das noch gelungen war. Und noch etwas offenbarte dieser Fund: Sie hatte die Wertgegenstände tatsächlich nur deshalb aus der Wohnung geräumt, um ihren Mann zu reizen. Er sollte ausflippen, damit sie die Polizei rufen und nach außen hin das Bild eines gewalttätigen Mannes vermitteln konnte. Ob dies nun als Nachweis einer von langer Hand geplanten und wohldurchdachten Tat genügte?
Natürlich führten wir am Originaltatort auch eine Rekonstruktion durch. Eine Kollegin gleicher Größe und gleichen Gewichtes wie unsere Beschuldigte legte sich im Schlafanzug in das Bett und wurde von einem Kollegen gleicher Größe und gleichen Gewichtes wie unser Opfer mit einem Gummimesser angegriffen. Die beiden kämpften, so wie es die Beschuldigte beschrieben hatte. Dann krachten sie beide aus dem Bett. Das Ergebnis sah leider so aus, wie wir es nicht erwartet hätten. Das Laken war zwar deutlich mehr zerwühlt als in der Tatnacht, aber dennoch nicht so sehr, dass man einen krassen Unterschied gesehen hätte. Dieses verdammte Spannbetttuch war tatsächlich relativ glatt geblieben. Und die zurückgeschlagene Zudecke will sie ja noch gar nicht hochgezogen gehabt haben. Auch sie war natürlich zerknüllter als in der Tatnacht, aber eben auch nur so weit, dass es »interpretationsfähig« blieb. Ich hörte den Anwalt schon sagen: »Diese minimalen Unterschiede sind doch eindeutig darauf zurückzuführen, dass man die Bewegungsabläufe in der Tatnacht niemals so nachvollziehen kann, wie sie wirklich
Weitere Kostenlose Bücher