Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
sie fest davon überzeugt waren, diese sicher im Griff zu haben. Sie hatten sich geirrt. So wie sich auch Annabella W. geirrt hatte.
Christoph W. wurde am Vormittag des darauffolgenden Tages zur Vernehmung abgeholt und in die Räumlichkeiten der Mordkommission gebracht. Es dauerte nur 20 Minuten, bis er sein Schweigen brach und weinend eingestand, dass er vom Plan seiner Mutter, den Vater töten zu wollen, gewusst habe. Ganz behutsam hatte ich mit ihm gesprochen und mit den vorliegenden Fakten vertraut gemacht. Ich könne mir vorstellen, so erklärte ich ihm, dass ihm seine Mutter sicherlich nicht böse sei, wenn er die Wahrheit sage. Besonders wenn sie begreife, was sie da von ihm verlangen würde. Ihm eine solche seelische Last zuzumuten sei sicherlich nicht in ihrem Sinne. Es schien, als ob er auf diese Worte nur gewartet hätte, als seien sie eine Bestätigung dessen, was ihm ohnehin schon im Kopf umgegangen war. Er war froh, seine Seele entlasten zu dürfen. Ich bin sogar überzeugt davon, dass ihn dieses Geständnis vor schwerem seelischem Schaden
bewahrt hat. Das konnte man allein schon daran ablesen, wie erleichtert der Junge war, als er es endlich aussprach: »Ja, ich wusste es.«
Er habe sich mit der Tat nicht identifiziert und auch versucht, der Mutter dieses Vorhaben auszureden, aber das sei ihm nicht gelungen. Also habe er resigniert, verdrängt und gehofft, dass sie es nicht tun werde. Aber gestern habe es konkrete Formen angenommen. Beim Abendessen habe ihm seine Mutter eröffnet, dass »es heute passieren werde«. Wenn der Vater wieder ein Messer mit ins Schlafzimmer brächte, würde sie sich zur Wehr setzen. Ja, so habe sie sich ausgedrückt. Wortwörtlich habe sie gesagt, sich »zur Wehr setzen«. Das sei für ihn auch schlüssig gewesen, weil doch sein Vater der Aggressor gewesen sei. Seine Mutter habe ihm erklärt, sie könne nicht mehr anders, sie sei am Ende mit ihren Nerven. Dass der Vater Abend für Abend ein Messer mit ins Schlafzimmer genommen hatte, um die Mutter unter Druck zu setzen und zu bedrohen, habe sie völlig fertig gemacht. Er selbst habe zwar das Messer nie gesehen, aber das sei nicht ungewöhnlich gewesen. Er sei immer schon aus den Streitigkeiten seiner Eltern herausgehalten worden. Im Grunde habe er nie genau gewusst, worum es den beiden eigentlich wirklich ging. Alles, was er wisse, wisse er von seiner Mutter. Der Vater sei immer erst spät am Abend oder in der Nacht heimgekommen, weshalb sie seit Monaten kaum noch persönlichen Kontakt hatten. Er habe seinen Vater auch nie darauf angesprochen oder zur Rede gestellt, auf ausdrücklichen Wunsch der Mutter. Sie wollte keinesfalls, dass er »in die Sache« mit hineingezogen werde.
Mutter sei nervös gewesen, habe viel Tee getrunken
und Baldrian-Dragees in größeren Mengen geschluckt. Sie habe ihn dennoch beruhigt und gemeint, er habe mit der Sache nichts zu tun, und wenn hinterher die Polizei fragen würde, solle er einfach sagen, er habe geschlafen, von nichts gewusst und sei erst aus seinem Zimmer gekommen, als alles schon vorbei war. So sei es dann ja auch gewesen. Um 21.00 Uhr habe ihn die Mutter in sein Zimmer geschickt. Ihm sei schlecht geworden, er habe nicht schlafen können, und es seien die schlimmsten Stunden seines Lebens gewesen.
Der junge Mann tat mir leid. Die Tötung des Vaters durch die Mutter zu verkraften musste furchtbar sein. Ein Produkt seiner Mutter, dachte ich und musste an ähnliche Fälle denken, die ich schon miterlebt hatte. Mütter und Söhne. Ein Thema für sich.
Christoph wohnte nun bei den Eltern seines Vaters. Zu diesen hatte er ein inniges Verhältnis, und sie hatten Verständnis dafür, dass er mehr seiner Mutter zugewandt war als ihrem Sohn. Wunderbare Menschen. Ohne Hass, ohne Rachegefühle, voller Güte und Mitleid. Christophs Großeltern schoben es dem Einfluss ihrer Schwiegertochter zu, die ihnen nie besonders nahe stand. Nicht weil sie ihre Schwiegertochter nicht gemocht hätten, sondern umgekehrt. Sie waren ihrer Schwiegertochter zu einfach, zu gewöhnlich, zu ungebildet. Obwohl sie es zu etwas gebracht hatten in ihrem Leben. Helmuts Vater hatte eine gut gehende Spenglerei betrieben und dadurch ein beträchtliches Vermögen angespart. Die Mutter führte das Büro und zog die zwei Söhne auf. Helmut, der jüngere der beiden, hatte schon einen erheblichen Erbteil in Form von Immobilien erhalten. Der älteste Sohn hatte den Betrieb übernommen. Dass es in der Familie zu einem
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