Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
an der Uni gemacht?«
»Gelegentlich gehe ich in die Mensa zum Essen.«
Der hat auf alles eine Antwort, überlegte ich. Hochintelligent und äußerst wachsam. Wird nicht leicht werden, ihn in Widersprüche zu verwickeln. Aber in einem Punkt war ich mir ziemlich sicher: Wir waren auf dem »richtigen Dampfer«.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns bei Ihnen umsehen?«
»Nein, überhaupt nicht, Sie können alles ansehen.«
Ich war überrascht. Vorhin hatte er noch einen Durchsuchungsbefehl verlangt, und jetzt zeigte er sich plötzlich kooperativ. Mein Kollege öffnete den Kleiderschrank. Eine Durchsuchung war hier nicht erforderlich, denn es waren nur zwei oder drei Kleidungsstücke, die dort verloren herumhingen. Eine Hose, ein Pullover, eine Jacke, höchstens zwei oder drei Hemden, ein paar Unterhosen und sonst nichts. Keine Auffälligkeiten, keines der Kleidungsstücke wies augenfällige Blutspuren oder Beschädigungen auf.
Die Küchenzeile war sauber und vor allem leer. Kein Geschirr, kein Kaffeeautomat, nichts. Ich öffnete den Kühlschrank und erschrak. Außer zwei Packungen Toastbrot und einem Glas Marmelade war nichts vorzufinden. Nicht einmal eine Flasche Bier, keine Wurst, kein
Käse, nichts, was das Leben lebenswert macht. O mein Gott! Was für ein armer Schlucker!
»Sie leben ja ziemlich bescheiden«, wandte ich mich an ihn.
»Ich brauche nicht mehr«, sagte er.
Der Typ spinnt ja ganz schön, dachte ich mir und schaute mich auf dem Tisch um. Fast alle Bücher hatten mit »Psycho« zu tun. Werke über Psychologie, Psychiatrie und vor allem über psychische Krankheiten. Nur wenige Bücher hatten einen Bezug zu seinem Germanistikstudium. Es schien, als ob er anhand der Bücher so etwas wie eine Selbstdiagnose zu stellen versuchte.
Eigentlich konnte der Überfall auf Christine S. durchaus die Tat eines psychisch Kranken gewesen sein, überlegte ich. Jedenfalls würde kein echter Vergewaltiger oder erfahrener Verbrecher so blöd sein und sein Opfer erst einmal mit Tränengas zum Schreien bringen. Ganz im Gegenteil: Erstes Ziel würde sein, das Opfer am Schreien zu hindern. Wir suchten also eher einen Dilettanten, einen Anfänger. Einen, dessen Gefährlichkeit sich aus seiner Naivität ableitete.
»Wir würden Sie bitten, mit zur Dienststelle zu kommen, zu einer schriftlichen Vernehmung.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, jetzt gleich. Oder haben Sie etwas vor?
»Nein, ich habe nichts vor.«
»Na schön, dann fahren wir zu uns. Zurück müssen Sie allerdings die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, was ja kein Problem sein dürfte, oder?«
»Nein«, antwortete er.
Da wir gegen ihn keinerlei Beweise hatten und die wenigen Indizien natürlich nicht ausreichten, um ihn als Beschuldigten
zu behandeln, mussten wir ihn als Zeugen vernehmen.
In meinem Büro angekommen, boten wir ihm ein Getränk an, und er bat um ein Glas Wasser. Mein Kollege holte eine Flasche Mineralwasser, worüber er sehr erfreut zu sein schien. Ich war bemüht, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen und ihm den Eindruck zu vermitteln, als habe er in mir einen verständnisvollen, väterlichen Freund gefunden, wenn auch einen strengen. Das funktionierte tatsächlich. Er bat mich nämlich plötzlich, ihn zu duzen. Wegen des Altersunterschiedes sei das in Ordnung, meinte er. Aha, dachte ich, so alt sehe ich also schon aus. Na gut, dann spiele ich halt den guten, aber strengen Papi.
Eine Schreibkraft kam, bereitete das Protokoll vor, und ich belehrte ihn schließlich als Zeugen: »Alexander, du sollst im Zusammenhang mit der versuchten Tötung an einer Studentin im Olympiadorf als Zeuge vernommen werden. Du bist verpflichtet, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, andernfalls könntest du dich strafbar machen. Ich weise dich aber ausdrücklich darauf hin, dass du dich nicht selbst oder Angehörige belasten musst und auf entsprechende Fragen die Antwort verweigern kannst. Wenn du aber antwortest, musst du die Wahrheit sagen. Du darfst auch nichts verschweigen, denn auch Verschweigen ist Lüge. Lügen dürftest du nur, wenn du Beschuldigter wärst. Das bist du aber nicht. Also denk daran. Hast du das verstanden und bist du bereit, wahrheitsgemäß auszusagen?«
»Ich habe die Belehrung verstanden und werde Ihre Fragen wahrheitsgemäß beantworten.«
Sein lupenreines Hochdeutsch und seine geschliffene Ausdrucksweise ließen ihn noch seltsamer wirken, als er
ohnehin schon war. Er antwortete immer in ganzen, grammatikalisch korrekten Sätzen.
Weitere Kostenlose Bücher